Julia Extra Band 0295
nichts über Sie. Nur eines: Sie haben eine Frau. Wo auch immer sie sich jetzt aufhält.“
Nun fühlte er seinerseits die Wut in sich aufsteigen. Weil er außer sich war vor Angst um Tim, hatte er seine Einladung vielleicht etwas ungeschickt formuliert, aber das erlaubte Jennifer noch lange nicht, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. „Ich bin vielleicht nicht der beste Vater der Welt oder der tugendhafteste aller Menschen, aber deswegen bin ich noch lange kein Ehebrecher. Ich hatte nicht vor, Sie mit meinen Privatangelegenheiten zu belästigen, schon gar nicht, wenn meine Kinder mithören können …“
Er schaute sich nach Cilla und Rowdy um, die ins Malen vertieft waren, und senkte die Stimme. „Tim glaubt noch immer, dass seine Mutter zurückkommt. Aber Belinda hat in den drei Jahren, die sie nun schon fort ist, nicht ein einziges Mal ihre Kreditkarte benutzt oder Geld von ihrem Konto abgehoben. Niemand hat sie gesehen oder von ihr gehört. Selbst wenn sie mich verlassen wollte, sie war eine hingebungsvolle Mutter und Tochter. Aber weder zu ihren Eltern noch zu ihren Kindern hat sie Kontakt aufgenommen. Die Polizei vermutet, dass sie tot ist. Seit einem Jahr gibt es einen entsprechenden Aktenvermerk.“
Jennifer sog hörbar ihren Atem ein. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.
Er hörte kaum hin. Seine Brust hob und senkte sich, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich. „Nur damit Sie es wissen: Die Einladung zu einem Glas Wein war als Dankeschön gedacht, weil Sie sich um meine Kinder gekümmert haben und gastfreundlich waren. Mehr als Freundschaft kann ich einer Frau ohnehin nicht bieten. Und mich mit Zweideutigkeiten einer Nachbarin zu nähern, die mir und den Kindern Gutes getan hat, liegt mir völlig fern.“
Röte stieg in Jennifers Gesicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Könnten wir die letzten Minuten ungeschehen machen?“, wisperte sie und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich würde gerne ein Glas Wein mit Ihnen …“
Mit einem Mal war seine Wut verraucht. Mit einem verlegenen Lächeln ergriff er ihre Hand. „Freunde?“
„Ja, bitte.“ Ihre Rechte zitterte.
Was sollte er nun sagen oder tun? Er fühlte sich wie ein Tölpel. „Jennifer?“
„Wann soll ich kommen?“, fragte sie leise. „Lieber nicht so früh. Ich möchte Tim nicht beunruhigen.“
„Versuchen Sie es gegen neun. Jetzt muss ich gehen.“ Er erhob die Stimme. „Kinder, wir müssen Timmy suchen und Abendbrot machen.“ Die beiden standen sofort auf, ohne zu murren. Das war immer so, wenn ihr großer Bruder weggelaufen war. Sie wussten, dass sie ihrem Vater nicht noch mehr Kummer machen durften.
In diesem Moment klingelte Jennifers Telefon. Sie sprach nur kurz und strahlte Noah an. „Man hat Tim gefunden. Ausgerechnet bei meinem Onkel.“
3. KAPITEL
Als sie Noah aus der Hintertür seines Hauses treten sah, war es fast halb zehn. Jennifer blieb noch ein paar Minuten im Schaukelstuhl auf ihrer Veranda sitzen. Es sollte nicht so aussehen, als hätte sie auf ihn gewartet.
Sie mochte diesen Mann, obwohl das Verschwinden seiner Frau Fragezeichen aufwarf. Außerdem war er schwer einzuschätzen.
Seine Frau war davongelaufen, sein Sohn lief davon … Jennifer lehnte es ab, ihm die Schuld daran zu geben. Mark war ihr schließlich auch davongelaufen. Nein, dieser Mann hatte Kummer, und er ging liebevoll mit seinen Kindern um. Das allein zählte.
Immerhin hatte er ihr Freundschaft angeboten. Das hieß wohl, er brauchte Beistand. Auch sie sehnte sich nach einem verständnisvollen Menschen.
Also würden sie Freunde werden.
Von Noah war nur eine dunkle Silhouette zu sehen, als er jetzt auf dem mit Gras bewachsenen Hügel stand und auf das Meer schaute. Er wirkte verloren, verloren in der Vergangenheit.
Jennifers aufgeregter Herzschlag strafte alle Gedanken an Freundschaft Lügen.
Noah Brannigan war für sie nicht nur ein geplagter alleinerziehender Vater, der Unterstützung brauchte. Sie musste vorsichtig sein. Verheerend, wenn er herausfand, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte! Fast eine Stunde lang hatte sie in ihrem Kleiderschrank nach einem hübschen Sommerkleid gestöbert und lange gezögert, ob sie ihr Haar nach dem Waschen hochstecken oder offen tragen sollte.
Solch quälende Vorfreude hatte sie seit Jahren nicht mehr verspürt, ja vollkommen vergessen, dass es sie gab. Sie hatte sich ihr Leben beschaulich eingerichtet, bis dieser Mann durch die Hintertür ihres Hauses getreten war, um seine
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