Julia Extra Band 0295
erwartete. In Wirklichkeit fand er die Vorstellung, den restlichen Abend gemeinsam mit ihr zu verbringen, äußerst verlockend – selbst bei körperlicher Arbeit.
„Vielleicht sollten wir lieber einen Fachmann holen“, schlug er vor.
„Welcher Maler würde so kurzfristig kommen und die halbe Nacht durcharbeiten? Nein, das schaffen wir allein. Es ist schließlich keine Doktorarbeit“, zog sie ihn auf.
„Das hast du auch bei den Steinplatten gesagt, nachdem wir den Holzboden in der Küche renoviert hatten.“
„Dies ist einfacher, als die Platten für einen Pfad zu verlegen oder eine Schleifmaschine zu bedienen. Glaub mir: Ein paar Stunden, dann ist alles fertig“, erklärte sie zuversichtlich.
Vier Stunden später waren sie immer noch bei der Arbeit und hatten nur eine kurze Pause für das chinesische Essen eingelegt, das gegen acht Uhr geliefert worden war. Mit gekreuzten Beinen hatten sie auf der Abdeckplane am Boden gesessen und mit den Holzstäbchen direkt aus dem kleinen weißen Karton gegessen. Sie hatten nicht viel geredet, weder in der Pause, noch bei der Arbeit. Aber es war eine kameradschaftliche Stille gewesen.
Kurz nach zehn Uhr sagte Reese erschöpft: „Ich fürchte, der zweite Anstrich muss bis morgen warten. Dein Glück, dass du dann bei der Arbeit bist.“
Duncan goss die restliche Farbe aus dem Vorratsbehälter des Rollers in die Dose zurück und legte den Metalldeckel auf. Ohne aufzusehen erklärte er: „Ehrlich gesagt, ich habe mir die restliche Woche freigenommen.“
„Tatsächlich?“
Er sah zu ihr hinüber und fuhr fort: „Und die folgende Woche ebenfalls.“
„Du hast zwei Wochen Urlaub genommen?“
Ihre Stimme verriet Überraschung. Aber freute sie sich auch?
„Hm.“ Prüfend betrachtete er ihr Gesicht.
Reese schob ihr Haar mit dem Handrücken von den Augen und hinterließ einen gelben Streifen auf der Stirn. Ihre Wangen und ihre Nasenbrücke waren mit winzigen gelben Spritzern übersät, die mit ihren Sommersprossen konkurrierten. Reese verabscheute diese Sommersprossen. Er hatte dagegen jede einzelne geliebt.
Duncan zog ein Taschentuch aus seiner Rücktasche, säuberte seine Hände und reichte es an Reese weiter. „Du hast Farbe im Gesicht.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Stellen. Doch ohne Spiegel verschmierte sie sich nur stärker.
„Weshalb hast du Urlaub genommen?“
Duncan ging nicht auf ihre Frage ein. Er trat näher heran und nahm ihr das Taschentuch ab. „Lass mich mal“, sagte er und rieb vorsichtig mit dem Tuch über ihre Braue. „Du hast alles noch schlimmer gemacht.“
„Es ist Latexfarbe. Die geht mit Wasser und Seife ab“, antwortete Reese unbekümmert. Doch sie schluckte und beobachtete ihn mit ihren großen Augen aufmerksam.
„Selbst so verschmiert bist du immer noch die schönste Frau, die mir jemals begegnet ist.“
Reese lachte freudlos. „Ich bin nicht schön.“ Sie duckte ihren Kopf weg und betrachtete ihre mit Farbe bedeckten Hände.
Sie hatten solche Gespräche schon früher geführt. Doch es verblüffte ihn immer noch. Für eine Frau, die in vieler Hinsicht äußerst selbstbewusst war, verhielt Reese sich seltsam unsicher, was ihr unkonventionelles Aussehen betraf. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie begriff einfach nicht, weshalb er, Duncan, dieses Aussehen so reizvoll fand. Er hätte es selber nicht sagen können. Er wusste nur, dass er diese ungewöhnlichen Züge sehr mochte. Das war immer so gewesen. Und nach der Art zu schließen, wie sein Puls sich jetzt beschleunigte, würde es auch in Zukunft so bleiben.
Duncan strich federleicht mit dem Finger Reeses Kiefer entlang und hob ihr Kinn an. „Für mich bist zu schön.“
Er beobachtete den pochenden Puls unten an ihrem Hals, und seine Erinnerungen kehrten zurück: wie ihre zarte Haut schmeckte, wie sie sich unter seinen Fingern anfühlte … Unwillkürlich beugte er sich vor und drückte die Lippen auf ihren Mund. Die Berührung war nur flüchtig, aber süß. Sie erinnerte ihn an das erste Mal vor vielen Jahren, als er Reese durch seinen Freund auf einer Party kennengelernt hatte. Sie war neu in der Stadt gewesen und hatte gerade ihre Lehrtätigkeit in dem Schulbezirk aufgenommen, wo Daniel Clairbornes Mutter als Oberschulrätin arbeitete. Nachdem ihre Lippen sich wieder gelöst hatten, hatte Reese gelacht.
„Das nennst du einen Kuss?“, hatte sie herausfordernd gefragt und sein Selbstbewusstsein erheblich erschüttert. Doch dann hatte sie
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