Julia Extra Band 0295
oder einfach weggehen wie vorhin im Kinderzimmer. Wie würde das aussehen?
Reese verdrängte ihr schlechtes Gewissen, während sie das Wohnzimmer verließ. Unwillkürlich fragte sie sich, weshalb sie diesen Schritt plötzlich für nötig gehalten hatte.
In der Küche füllte sie vier Porzellantassen mit Kaffee und versuchte, ihre wirren Gefühle zu ordnen. Nein, sie machte sich etwas vor. Sie hatte zu viel in Duncans Worte und in sein Mienenspiel hineingelegt und suchte nach Dingen, die nicht vorhanden waren. Sie erwartete oder hoffte sogar, dass er endlich dieselbe grenzenlose Liebe und Freude empfinden würde wie sie, sobald sie Daniel ansah. Aber Duncan konnte nicht so für ein adoptiertes Kind empfinden. Das hatte er ihr selber gesagt. Das durfte sie nicht vergessen, sondern musste es akzeptieren.
Er tat es ja ebenfalls.
Doch als Reese ins Wohnzimmer zurückkehrte, hätte sie beinahe das Tablett mit dem Kaffee zu Boden fallen lassen angesichts des Bildes, das sich ihr bot. Duncan saß zwischen seinen Eltern auf dem Sofa, und Daniel lag auf seinem Schoß.
„Er schläft nachts schon sechs bis acht Stunden durch“, prahlte er. „Und ihr solltet ihn beim Füttern sehen. Der kleine Kerl kann es gar nicht erwarten, wenn man mit der Flasche kommt. Er nimmt sich nicht einmal die Zeit, zwischendurch ein Bäuerchen zu machen.“
Reese hörte zu, und ihre Gefühle drohten sie zu überwältigen. Die Tassen begannen zu klappern, und der Kaffee schwappte über den Rand, als sie das Tablett ziemlich unsanft auf den Couchtisch stellte.
„Entschuldigung“, murmelte sie.
Während sie den verschütteten Kaffee mit einem Windelknäuel aufwischte, sagte Louise wehmütig: „Du warst ganz schön quengelig, Duncan.“
„Wirklich?“, fragte er.
„Koliken“, erklärte sie. „Dein Kindermädchen und ich sind die ersten fünf Monate ständig mit dir auf und ab gegangen. Es war ziemlich – anstrengend. Ich fürchtete schon, ich würde die dunklen Ringe unter meinen Augen nie wieder loswerden.“ Sie seufzte tief. „Aber wenn du endlich eingeschlafen warst, zog ich den Schaukelstuhl neben die Wiege und saß manchmal eine Stunde oder länger da und schaute dich einfach an.“ Mit einem ungewöhnlichen Anflug von Herzlichkeit tätschelte sie Duncans Wange. „Du warst so hübsch.“
„Das tue ich auch“, gab Reese zu.
„Tatsächlich?“
Sie nickte. War es möglich, dass ihre Schwiegermutter und sie doch etwas gemeinsam hatten? „Es ist kaum zu glauben, dass man einen Menschen derart lieben kann.“
„Ja, das stimmt.“ Duncans Mutter blinzelte rasch ein paar Mal. Dann spitzte sie die Lippen. „Die Windeln tropfen, Reese. Pass auf, sonst bekommt der Teppich Flecken.“
Das warme Gefühl erwies sich als flüchtig. Reese eilte mit dem nassen Bündel in die Küche, um ein trockenes Tuch zu holen. Sie kehrte gerade rechtzeitig zurück, um zu hören, wie Duncan seine Mutter fragte: „Willst du ihn einmal halten?“
Louise richtete sich auf und schien aufrichtig erfreut über seinen Vorschlag zu sein. Doch dann schüttelte sie den Kopf und sank an die Kissen zurück. „Lieber nicht. Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Meine Bluse ist aus Seide.“
„Daniel macht es bestimmt nichts aus“, sagte Reese.
Duncan warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Komm schon, Mutter. Nimm ihn“, sagte er und legte das Baby in ihre Arme. Louise zögerte einen Moment, dann zog sie den Kleinen näher an ihren Körper.
„Stütz seinen Kopf gut ab“, sagte Duncan Vater auf der anderen Seite.
„Ich weiß, wie man ein Baby hält, Grayson“, erklärte Louise scharf. Plötzlich wurde ihre Miene weich, und sie fügte beinahe ehrfürchtig hinzu: „Meine Güte, man vergisst völlig, wie klein sie sind.“
Sie legte Daniel so, dass er längs auf ihrem Schoß lag, und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände. Der Kleine wedelte mit den Armen, strampelte mit den Beinen und quiekte so fröhlich, dass alle lächelten.
„Er ganz schön lebhaft“, stellte Grayson fest. Seine Mundwinkel zuckten, und die tiefen Falten in seinem Gesicht verzogen sich zu einem Lächeln, als wäre er ganz vernarrt in seinen Enkel.
Duncan sah es allerdings nicht. Er ließ den Blick nicht von dem Baby.
„Ja, Sir“, sagte er. „Er kann seinen Kopf schon anheben, wenn er auf dem Bauch liegt. Obwohl es natürlich viel zu früh ist, bin ich ziemlich sicher, dass er einmal ein toller Sportler sein wird. Er bewegt seine Glieder sehr koordiniert, und er ist sehr
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