Julia Extra Band 0295
beiden zu, während Noah die Nummer von Uncle Joe wählte.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg … Ja, ich weiß, danke. Aber ich will ohnehin unterwegs Essen holen. Wie bitte? Was heißt das, er ist nicht da?“ Er hörte eine Minute schweigend zu, mit hart zusammengepressten Lippen. „Es soll eine Überraschung werden, verstehe. Wie lange ist er schon weg? Eine ganze Stunde? Ist etwas passiert? Joe, ich will wissen, wo Tim ist.“
Noahs zunehmende Panik war wahrscheinlich unbegründet. Trotzdem griff die Angst auf Jennifer über. Als Noah sich ans Steuer setzte, hatte sie schon auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt.
8. KAPITEL
„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Ich habe es dem Jungen versprochen“, sagte Joe nun schon zum vierten Mal. „Ich bin sicher, dass er nicht in Gefahr ist.“
„Versprechen!“, rief Noah aufgebracht. „Es wird bald dunkel, und mein Sohn ist verschwunden.“ Er zog sein Handy aus der Hosentasche.
„Tun Sie das nicht!“ Joe legte die Hand auf die Tasten. „Der Junge war so aufgeregt, Noah. Wenn Sie jetzt die Polizei anrufen, verderben Sie ihm den Spaß.“
„Welchen Spaß?“ Als Joe wieder den Kopf schüttelte, verlor Noah die Beherrschung. „Ihre Versprechen und Tims Überraschung interessieren mich nicht. Sie wissen nicht, wo mein achtjähriger Sohn ist, und erwarten, dass …
„… dass Sie ihm vertrauen. Ja, das erwarte ich in der Tat. Geben Sie ihm wenigstens noch zehn Minuten.“
„Belinda habe ich damals auch noch zehn Minuten gegeben“, fuhr Noah den alten Mann an. „Weil ich darauf vertraute, dass sie heimkommt. Mein Fünfjähriger hatte mich angerufen, weil der Babysitter fortgegangen war und er allein nicht mit dem schreienden Baby fertig wurde. Als ich nach Hause kam, war meine Frau immer noch nicht da. Ich habe ihr zehn Minuten gegeben, und noch einmal zehn, und noch einmal zehn. Schließlich kann sich jeder mal verspäten. Als ich sie dann als vermisst melden musste, habe ich mich immer wieder gefragt, ob es richtig gewesen war, ihr diese zehn Minuten zu gewähren. Was, wenn sie in dieser Zeit entführt, vergewaltigt oder ermordet worden war und ich sie hätte retten können? Daraus habe ich gelernt. Mein Sohn kann ruhig sauer auf mich sein, solange ich ihn lebend und gesund bei mir habe.“
Joes Widerstand brach zusammen wie ein Kartenhaus. Noah wählte.
„Bitte!“
Jennifer griff nach seiner Hand. Sie zitterte. „Noah, ich verstehe Sie. Und ich möchte auch, dass Tim vor Einbruch der Dunkelheit wieder da ist. Aber warum rufen Sie nicht erst seine Freunde an, bevor Sie sich an den Sheriff wenden? Tim ist doch ein Kind, Noah. Vielleicht spielt er irgendwo, hat die Zeit vergessen …“
Ihre Zuversicht hielt ihn davon ab, die grüne Verbindungstaste zu drücken.
„Bei Ethan habe ich auf der Fahrt hierher bereits angerufen“, fuhr sie fort. „Aber ich könnte den Klassenlehrer nach den Nummern seiner anderen Freunde fragen.“
Dann hatte Tim wirklich Freundschaften geschlossen und befand sich auf dem Weg, ein ganz normaler Junge zu werden?
„Tim wird wieder zu uns kommen“, flüsterte sie.
Auch Jennifer liebte seinen Sohn, und sie stand ihm zur Seite. Ihr Vertrauen gab ihm Mut, nicht auf seine Angst zu hören. Das erste Mal seit Jahren fühlte Noah sich nicht einsam.
Ohne darüber nachzudenken tat er das, was er schon lange hatte tun wollen. Er neigte den Kopf und küsste sie auf den Mund.
Alles an diesem ersten Kuss war falsch. Der Zeitpunkt, der Ort, alles. Er hatte nicht einmal ein Recht, Jennifer zu küssen. Er war kein freier Mann, sein ältester Sohn war verschwunden, seine beiden anderen Kinder schauten vielleicht zu, und Joe, der ihn davor gewarnt hatte, sich seiner Nichte zu nähern, beobachtete ihn.
Doch all das zählte nicht. Noah nahm es nur am Rande wahr. Er spürte Jennifers Atem, ihre Brust hob und senkte sich, und ihre Augen füllten sich mit Sehnsucht. Sein Körper reagierte darauf.
Eine Woge der Begierde schlug über ihnen zusammen. Endlich war die Kluft überwunden … – für einen kurzen Moment. Da war es auch schon zu spät.
„Tim!“, rief Jennifer. Doch der Junge, der eben noch strahlend auf einem windschiefen Fahrrad – es musste sich wohl um die Überraschung handeln – auf sie zugefahren war, verwandelte sich in einen Wüterich.
Er hat gesehen, wie ich sie küsse.
„Hallo, Tim“, rief Noah, um das Schlimmste zu verhindern. „Du hast ein Fahrrad gebaut? Das sieht ja toll
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