Julia Extra Band 0295
fühlte sich hier fehl am Platz. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er vom Tod seiner Frau erfuhr, hatte Noah ihr einen Heiratsantrag gemacht.
„Nein!“ In der einfachen Antwort schwangen starke Gefühle mit, doch sein Blick ging ins Leere.
„Bist du sicher, Noah? Deine Schwiegereltern werden sich gewiss nicht freuen, mich hier zu sehen.“
„Geh nicht. Ich brauche dich.“
Sie begann zu zittern, doch sie nahm seine Hand. „Wie fühlst du dich?“
Er zögerte. Die Stille war kaum zu ertragen. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht“, murmelte er schließlich.
Seine ehrlichen Worte taten ihr weh. Wenn sie Freundschaft für ihn empfunden hätte, wäre es ihr möglich gewesen weiterzufragen. Noah musste sich jetzt mit den Fakten auseinandersetzen. Was bedeutete es für ihn, dass Belinda ihn gar nicht hatte verlassen wollen? Doch Jennifer liebte Noah, die Situation überforderte sie.
Sie unterdrückte die Tränen und versuchte zu lächeln. „Was brauchst du?“
Er rieb sich die Stirn. „Die richtigen Worte, um es Tim beizubringen.“
Nach einem leisen Stoßgebet trat sie einen Schritt zurück. Noah brauchte jetzt keine Geliebte. Das musste sie akzeptieren, ihn freigeben, ihm das Recht lassen zu trauern. „Es gibt keine richtigen Worte, Noah“, sagte sie leise. „Du kannst Tim nichts ersparen.“
Sein tiefer Seufzer vergrößerte die Distanz zwischen ihnen. Sie verstand. Auch sie hatte nach Codys Tod das Gefühl der Verlassenheit mit niemandem teilen können.
Verstehen hieß verzeihen. So sagte man wohl. Trotzdem wuchs in ihr der Schmerz wie ein Ungeheuer. Sie zog sich zurück, körperlich und seelisch, und schlüpfte zurück in die Rolle der hilfsbereiten Nachbarin. „Möchtest du einen Kaffee?“
Er nickte gedankenverloren. „Ja, danke.“
Als sie ihm schließlich den Becher hinstellte, nahm er keine Notiz davon. Ihre Nerven drohten zu zerreißen. Was tat sie eigentlich hier? „Wenn die Kinder kommen, brauchen sie etwas Tröstendes zu essen. Ich werde einen Schokoladenkuchen und Kekse von drüben holen.“
„Nein.“
Erschrocken schaute sie sich um. Er war aufgesprungen und streckte die Arme nach ihr aus. Seine verschreckten Augen glänzten vor Tränen.
„Jennifer.“
Das hatte sie gebraucht. Sie stürzte zu ihm und umschlang ihn. „Ich bin ja da, Noah“, flüsterte sie und streichelte ihn. Sein Gesicht, seinen Rücken, seine Schultern. „Ich bin bei dir.“
„Ich fühle nichts. Nichts, nichts“, murmelte er, und sein Körper bebte. „Ich bin Witwer und muss die Überreste meiner Frau beerdigen. Aber ich fühle keinen Schmerz, keine Trauer. Nur Bitternis. Sie wollte nur einen Spaziergang machen und wurde Opfer eines Verkehrsunfalls. Wieso ärgere ich mich immer noch über sie? Dazu habe ich doch kein Recht.“
Jennifer küsste seine Wangen, seine Lippen, tröstend und liebevoll. „Ich war auch böse auf Cody. Er sollte kämpfen, um bei mir zu bleiben. Wenigstens noch einen Tag lang. Doch er sah mich nur an und sagte: ‚Ich bin müde, Mummy.‘ Kurz darauf hörte er auf zu atmen.“ Die Trauer nahm ihr die Luft. „Damals habe ich ihn fast gehasst dafür. Obwohl er doch ein so kleiner sterbenskranker Junge war. Ich wollte nicht verlassen werden.“
Ihr Gefühlsausbruch schien Noah zu beruhigen. Er drückte Jennifer an seine Brust. „Ich bin nicht um meinetwillen böse auf Belinda. Sondern der Kinder wegen. Sie hätte sie nicht allein zu Hause lassen dürfen. Auch nicht mit einem Babysitter … Aber wenn sie sie mitgenommen hätte …“ Er barg sein Gesicht an ihrem Hals, und ein Schauer lief durch seinen Körper. „Ich will nicht mehr mit ihr hadern. Ich will sie nicht mehr hassen.“
Schließlich sagte sie es doch. „Du bist wütend, weil du sie liebst und sie nicht mehr da ist“, murmelte sie, und es war, als bräche ihr Herz entzwei. Er musste trauern dürfen um seine geliebte Frau, die ihn nicht verlassen hatte, sondern gestorben war.
„Liebe oder Ärger, ich weiß es nicht mehr. Mein Kopf ist ein Tollhaus. Alles, was ich weiß, ist: Ich muss es einem kleinen Jungen erklären, der drei Jahre lang dem Versprechen seiner Mutter geglaubt und auf ihre Rückkehr gewartet hat.“
„Du bist sein Vater. Er liebt dich. Du wirst es schaffen.“
Er seufzte und presste sie an sich. „Ich muss die Träume, Hoffnungen und das Vertrauen eines Kindes zerstören.“
Seine Worte, sein warmer Atem auf ihrer Haut, alles schmeckte nach Abschied.
Ja, Abschied. Er war unvermeidlich.
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