Julia Extra Band 0295
Marilee ein schreckliches Geheimnis hütete. Wenn sie nur Licht ins Dunkel bringen könnte, würde Justin endlich einsehen, was für eine Person diese Frau wirklich war. Mit ein paar Telefonaten und einigen Scheidungspapieren würde man dann den Rest erledigen. Und so wartete Judith, denn sie war sich sicher, dass Marilee irgendwann einen Fehler machen und ihr wahres Gesicht zeigen würde.
Zufrieden betrachtete Marilee die Babymöbel, die kurz zuvor geliefert worden waren. Lächelnd öffnete sie ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Justin hatte am Wochenende die Wände des Kinderzimmers gestrichen, und der Geruch der Farbe hing noch immer in dem kleinen Raum. Als die Luft das Zimmer durchströmte, nahm Marilee den Hammer, den sie zuvor auf die Kommode gelegt hatte, und zog einen Nagel aus ihrer Hosentasche. Das „Pu der Bär“-Thema, das sie für den Raum ausgesucht hatte, war einfach perfekt. Jetzt musste sie nur noch zwei kleinere Bilder von Winnie Pu und seinen Freunden im Hundertmorgenwald aufhängen, und dann wäre das Zimmer fertig. Mit einigen wohlplatzierten Hammerschlägen versenkte sie den Nagel in der Wand. Sie hatte das erste Bild gerade aufgehängt und suchte nach einem Platz für das zweite, als Justin durch die Tür kam.
„Liebling, du solltest das nicht tun. Warum bittest du mich nicht um Hilfe? Du weißt doch, was Doc Blankenship letzte Woche gesagt hat. Du sollst es ruhig angehen lassen. Er meinte, dass du untergewichtig und blass bist. Und als er das sagte, hat er mich missmutig angefunkelt – nicht dich.“
Marilee grinste. Der Frauenarzt, den sie in Lubbock aufgesucht hatte, war über sechzig Jahre alt und wirkte mit seinem grauen Schnurrbart und seinen abgewetzten Cowboystiefeln eher wie ein Tiermediziner. Doch sie hatte von Anfang an Vertrauen zu ihm gehabt.
Justin nahm ihr den Hammer aus der Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich brauche bitte einen Nagel.“
Sie lächelte und reichte ihm den Nagel.
„Wo hättest du das Bild gern?“, fragte er.
„Genau neben dem anderen, damit es eine Gruppe wird.“
„Alles klar“, erwiderte er.
Einen Augenblick später hingen alle Bilder an ihrem Platz.
„Was denkst du?“, wollte Marilee wissen.
Justin schmunzelte. „Dass du unfassbar süß bist.“
„Eigentlich meinte ich das Zimmer. Übrigens sehe ich aus, als hätte ich eine ganze Melone verschluckt. Wie kann ich da süß sein?“
„Verstehe ich auch nicht, aber es ist so“, entgegnete Justin. Plötzlich hob er sie hoch.
„Justin, ich bin zu schwer!“, rief Marilee und musste lachen, als er mit ihr auf dem Arm durch das Zimmer tanzte. „Du bist verrückt – weißt du das?“
„Ja. Verrückt nach dir“, erwiderte Justin und summte die Erkennungsmelodie von „Pu der Bär“. Sie machten noch zwei schwungvolle Drehungen durch den Raum, bevor Justin schließlich anhielt. „Weißt du was? Ich bin ein glücklicher Mann.“
„Glaubst du?“
Er nickte und wirkte mit einem Mal sehr ernst. Vorsichtig setzte er Marilee ab und umschloss mit beiden Händen ihr Gesicht. „Oh ja … Liebling, es tut mir so leid, dass deine Eltern das nicht mehr miterleben können.“
Das Lächeln auf Marilees Gesicht erstarb. Ihre Eltern! Sie nickte, während sie einen Augenblick lang darüber nachdachte, ihm die Wahrheit zu sagen. Wenn ihre Eltern noch am Leben wären, hätten sie viel zu viel damit zu tun, sich gegenseitig zu hassen, als dass sie sich an irgendetwas hätten erfreuen können. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite.
„Ich bin schon so lange auf mich gestellt, dass ich oftmals einfach vergesse, dass ich Eltern hatte“, erklärte sie und ergriff den Hammer. „Den bringe ich besser wieder zurück. Ich habe Maria versprochen, ihn zurückzulegen, sobald ich fertig bin.“
Ganz offensichtlich hatte Marilee bewusst das Thema gewechselt – denn Maria würde wegen eines Hammers ganz sicher keinen Aufstand machen.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte Justin sich behutsam. „Ich wollte dich nicht aufregen, indem ich über deine Eltern spreche.“
„Natürlich ist alles in Ordnung, und du hast mich nicht aufgeregt“, erwiderte sie. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, vermutete jedoch, dass dieses Lächeln auf ihn so aufgesetzt wirkte, wie es sich anfühlte. „Möchtest du auch etwas Limonade?“
Justin zögerte und seufzte dann. Marilee sprach so gut wie nie über ihre Vergangenheit. Aber er vertraute einfach darauf, dass sie sich ihm eines
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