Julia Extra Band 0297
dünn und hat durch die Chemotherapie alle Haare verloren. Versuchen Sie bitte, nicht zu schockiert zu wirken, wenn Sie sie das erste Mal sehen. Rebecca ist zwar erst sieben, aber sie ist auch ein richtiges Mädchen und sehr empfindlich, was ihr Aussehen angeht.“
Marinas Herz zog sich zusammen. „Oh, der arme kleine Schatz“, murmelte sie.
Der Earl of Winterborne stieß einen tiefen Seufzer aus. Darin drückte sich seine ganze Erschöpfung aus, seine Sorge und Trauer, plus einer gewissen Resignation, weil er sich so hilflos fühlte.
Marina konnte nur allzu gut nachempfinden, was er durchmachte, schließlich hatte sie dasselbe erlebt, als ihre Mutter an Krebs starb. Deshalb hatte sie sich auch in die Knochenmarkspender-Datei aufnehmen lassen. Sie wollte einem anderen Menschen Hoffnung geben – wenn es schon für ihre Mutter keine gegeben hatte.
„Ja. Ja, das trifft Rebecca im Kern“, stimmte er zu – mit einem Gesichtsausdruck, der genauso trostlos wirkte wie seine Stimme. Er ließ Marinas Ellbogen los und stellte den Koffer wieder auf den Boden. „Bis jetzt hat sie nicht viel Liebe in ihrem kurzen Leben erfahren. Und sie hat noch weniger Glück gehabt. Doch so laufen die Dinge schon seit geraumer Zeit in Winterborne Hall.“
Unwillkürlich legte sie ihm eine Hand auf den Arm. Sein Blick glitt zuerst zu der Hand, dann schaute er auf und sah das Mitgefühl in ihren Augen.
„Dann wollen wir hoffen, dass sich das Blatt mit meiner Ankunft wendet“, sagte sie sanft und drückte tröstend seinen Arm, bevor sie ihn wieder losließ.
Daraufhin starrte er sie sehr lange wortlos an. Zumindest kam es ihr so vor. Vielleicht waren es aber auch nur Sekunden.
„Das würde ich mir wünschen“, gab er schließlich zurück. „Aber ich habe das ungute Gefühl, dass es nicht so sein wird.
Man sagt, solche Dinge geschehen, um uns zu prüfen – unseren Charakter. Ich weiß jetzt schon, dass die nächsten Tage den meinen bis zum Äußersten prüfen werden.“
Marina wusste nicht genau, was er damit meinte. Hatten die Ärzte die Hoffnung bereits aufgegeben? War ihre Reise hierher reine Zeitverschwendung, ganz so, wie Shane gesagt hatte? Welche Unglücksfälle hatten wohl die Familie des Earls in letzter Zeit heimgesucht? Denn ganz offenbar ging es um mehr als die Krankheit des Kindes. Der Earl of Winterborne wirkte wie ein Mann, der eine schwere Bürde auf seinen Schultern trug.
Aber es waren breite Schultern, wie sie bemerkte, als er sich erneut bückte, ihren Koffer ein drittes Mal aufhob und losmarschierte. Ob seine Schultern ohne den Anzug noch genauso beeindruckend aussehen würden?
Während sie ihm rasch hinterherlief, runzelte sie missbilligend die Stirn. Das war nun schon das zweite Mal innerhalb weniger Minuten, dass sie den Mann in Gedanken auszog. Entwickelte sie sich seit ihrem sexuellen Erwachen durch Shane etwa zu einer Art Nymphomanin?
Den Gedanken mochte sie ganz und gar nicht. Es hatte ihr noch nie gefallen, wie manche Frauen ständig über Männer und Sex redeten, so als gäbe es nichts anderes im Leben. Oder die Art und Weise, wie sie bestimmte männliche Körperteile anstarrten.
Dabei glitt ihr Blick von seinen breiten Schultern zu einem äußerst knackigen Po, der sich unter seinem Jackett abzeichnete.
Du tust es doch selbst, flüsterte ihre innere Stimme, und du genießt es auch noch.
Na und, verteidigte sie sich in ihrem privaten Zwiegespräch. Was ist daran so falsch? Ein harmloser Blick tut niemandem weh!
Du willst aber sehr viel mehr als das. Du möchtest ihn berüh ren. Möchtest wissen, ob ein englischer Earl genauso liebt wie ein australischer Stallbursche. Du würdest am liebsten …
„ Oh, sei schon still!“, murmelte sie laut.
„Wie bitte?“ Das Objekt ihres inneren Dialogs sah über die Schulter zurück und verlangsamte seinen Schritt.
Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen. Gerade noch rechtzeitig stoppte sie und schlang die Umhängetasche höher, um mehr Gleichgewicht zu gewinnen.
„Nichts“, erwiderte sie mit gespielter Unschuld. „Ich habe nur mit mir selbst geredet.“
„Tun Sie das häufig?“, fragte er amüsiert, was ihn noch attraktiver erscheinen ließ.Warum, verflucht, konnte er nicht einfach todernst reagieren?
„Die ganze Zeit“, gab sie zu und riss sich mühsam von ihren unseligen Gedanken los. „Ich bin Einzelkind – da spricht man oft mit sich selbst. Ich unterhalte mich sozusagen mit meinem … geheimen Ich. Heutzutage finden diese
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