Julia Extra Band 0297
eingesperrt zu sein, fand sie zutiefst beunruhigend und noch schlimmer, als ihn von hinten anzustarren und dabei erotische Fantasien zu durchleben. Um sich abzulenken, sah sie aus dem Fenster und betrachtete die an ihr vorbeiziehende Umgebung.
„Sie erwähnten, dass Ihre Mutter an Krebs gestorben ist …“
Verdammt, er wollte sich mit ihr unterhalten. Das hieß, dass sie den Kopf drehen und ihn anschauen musste.
Ganz langsam und ungezwungen sah sie ihn an.
„Ja, das stimmt“, antwortete sie, während sich ihre Blicke begegneten. Mein Gott, er hatte wirklich unglaublich blaue Augen!
„War es Leukämie?“
„Nein. Sie ist an Hautkrebs gestorben. Vor ein paar Monaten. Es ging ziemlich schnell. Obwohl es nie schnell genug ist, nicht wahr?“, fügte sie hinzu, und ihr Herz zog sich zusammen, wenn sie an das Leid und die Schmerzen ihrer Mutter dachte.
„Und Ihr Vater? Wie kommt er damit zurecht?“
„Mein Vater starb, als ich noch ein kleines Baby war. Ein Pferd, das er zureiten wollte, warf ihn ab und schleuderte ihn in einen Zaun. Er hat sich das Genick gebrochen. Deshalb habe ich auch keine Geschwister.“
„Ihre arme Mutter.“
„Oh, Mum ist damit fertig geworden. Wie mit allem. Sie war sehr stark und sehr tapfer.“
„Dann schlägt ihre Tochter ihr nach.“
Marina schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so. Aber wir wollen nicht über mich reden. Erzählen Sie mir von Rebecca.“
„Was würden Sie gern wissen?“
„Oh … alles, denke ich.“ Das stimmte. Marina war furchtbar neugierig, was das Kind anging – und die Tatsache, dass es einen so jungen Großonkel hatte.
„Zu dieser Tageszeit dauert die Fahrt bis Mayfair nur eine halbe Stunde“, sagte er ein wenig bedauernd. „Ich glaube nicht, dass ich die komplette Winterborne-Saga in so kurzer Zeit erzählen kann, aber ich werde mein Bestes geben.“
Marina stellte schnell fest, dass sie ihm den ganzen Tag zuhören könnte. Das lag an seiner wunderbar weichen, tiefen Stimme. Und an dem perfekten Ausdruck. Bis heute hätte sie nie geglaubt, dass sie so etwas wie eine Stimme faszinieren könnte. Aber nicht nur sein Tonfall, nein der ganze Mann faszinierte sie, wenn sie ehrlich war. Genau wie die Geschichte, die er ihr erzählte …
Normalerweise hätte James den Titel des Earls of Winterborne gar nicht geerbt. Diese Ehre gebührte seinem Bruder Laurence, der zwanzig Jahre älter war als er.
Laurence war offensichtlich ein Nichtsnutz, eine Spielernatur, die das Leben in vollen Zügen genoss. Unglücklicherweise starb der Vater der beiden Männer kurz nach dem einundzwanzigsten Geburtstag seines ältesten Sohns an einem Herzinfarkt, weshalb Laurence den Titel schon in sehr jungen Jahren erbte.
Zugegebenermaßen überraschte der neue Earl alle, indem er beinahe sofort heiratete. Doch die Hoffnung, dass die Ehe ihn ruhiger machen und er sich auf die Pflichten, die mit dem Titel einhergingen, besinnen würde, erwies sich als falsch – was hauptsächlich an der Wahl seiner Ehefrau lag.
Joy war die jüngste Tochter einer Familie mit vier Mädchen, die für ihren Ehrgeiz bekannt waren, die gesellschaftliche Leiter um jeden Preis emporsteigen zu wollen. Mit der verschwenderischen Joy an seiner Seite nahm Laurences Leben noch extravagantere Züge an. Die beiden spielten, reisten, fuhren Ski, kauften ein und feierten Partys.
Auch die Geburt der Tochter Estelle zwei Jahre nach ihrer Hochzeit änderte nichts am Jetset-Leben von Lord und Lady Winterborne. Sie ließen das Neugeborene einfach in Winterborne Hall zurück, stellten ein Kindermädchen ein und lebten weiter wie gewohnt.
Wegen des geringen Altersunterschieds zwischen ihnen betrachtete James Estelle eher als kleine Schwester und nicht als Nichte. Doch obwohl er und seine Mutter sich mehr als redlich bemühten, dem Mädchen die fehlende elterliche Liebe und Aufmerksamkeit zu ersetzen, fühlte Estelle sich vernachlässigt und abgeschoben.
Als sie ihr Zuhause verließ, geriet sie schnell auf die schiefe Bahn und rutschte ins Drogenmilieu ab. Nachdem die Eltern daraufhin die monatlichen Zuwendungen eingestellt hatten, finanzierte sie ihre Sucht, indem sie sich auf der Straße verkaufte.
Zu diesem Zeitpunkt studierte James in Cambridge, und Estelle kontaktierte ihn hin und wieder, wenn sie dringend Geld brauchte. Dann versuchte er jedes Mal, sie zur Besinnung zu bringen, doch immer ohne Erfolg. Erst als sie ein paar Jahre später ungewollt schwanger wurde und nicht wusste, wer
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