Julia Extra Band 0297
schien auf der Hand zu liegen, dass Henry etwas in der Art befürchtete. Und natürlich kannte er den Mann besser als sie.
Innerlich hin und her gerissen, wirbelten die unterschiedlichsten Gedanken durch Marinas Kopf. Allein der Gedanke, dass der Earl sie vielleicht verführen wollte, erregte sie. Gleichzeitig enttäuschte sie das auch, weil sie ihn für perfekt gehalten hatte. Vielleicht hätte sie ihn nicht so schnell auf einen Sockel stellen sollen. Schließlich war er auch nur ein Mann und kein Heiliger.
„Aber Lady Tiffany würde Miss Marina doch sicher gern kennenlernen“, versuchte Henry es erneut.
Die Erwähnung von James’ Verlobter öffnete Marina die Au-gen. Sie konnte keine wie auch immer geartete sexuelle Verführung zulassen – sollte dies der Plan des Earls sein.
„Ja, und ich würde sie gern kennenlernen“, schaltete sie sich deshalb betont fröhlich ein. „Henry hat mir erzählt, dass Sie und Lady Tiffany sich in Kürze verloben werden, James.“
Es bestand kein Zweifel daran, dass der Earl einen finsteren Blick in Richtung seines Kammerdieners warf. Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann lachte er plötzlich und schaute Marina verschmitzt an.
„Die Menschen vertrauen Ihnen wirklich unheimlich schnell Dinge an. Glauben Sie mir, dass es sonst gar nicht Henrys Art ist, so zu tratschen. Ich frage mich, was er Ihnen als Nächstes erzählen wird“, murmelte er schalkhaft, bevor er ihr zum Abschied ein Lächeln schenkte. „Ich muss mich jetzt auf den Weg machen. Schlafen Sie gut, Marina. Ich komme so gegen halb drei zurück, um Sie abzuholen. Henry, sorgen Sie bitte dafür, dass Marina vorher etwas isst. Wir wollen doch nicht, dass sie hier nur Krankenhausessen bekommt.“
„Ganz bestimmt nicht, Mylord.“
Und damit verschwand besagter Lord.
Marina starrte auf den leeren Türrahmen und wünschte, ihr Herz würde nicht so wild pochen.
„Sie haben kaum etwas von Ihrem Frühstück gegessen, Miss Marina“, sagte Henry, während er James’ Tasse und die Kaffeekanne auf ein Tablett stellte.
„Ich … nein, Henry. Es tut mir leid“, antwortete sie. „Aus irgendeinem Grund habe ich den Appetit verloren.“
„Vielleicht sind Sie nervös wegen des Besuchs im Krankenhaus“, entgegnete er mit einer Sanftheit, die sie noch nicht an ihm kannte.
„Vielleicht, Henry.“
„Bestimmt haben Sie mehr Appetit, nachdem Sie ein wenig geschlafen haben.“
„Bestimmt.“ Plötzlich begann ihre Unterlippe zu zittern, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Auf keinen Fall wollte sie, dass Henry sie so sah! Voller Panik, sich völlig lächerlich zu machen, stand sie hastig auf und stieß dabei an den Arm des Kammerdieners. Das Silbertablett entglitt seiner Hand und fiel zu Boden, wobei die Tasse in tausend Scherben zersprang und sich der restliche Inhalt der Kaffeekanne auf den glänzenden Holzfußboden ergoss.
„Oh, mein Gott!“, rief Marina entsetzt. „Es tut mir furchtbar leid, Henry. Ich bin so ungeschickt!“ Sofort kniete sie sich nieder, um die Scherben aufzuheben. Doch der Vorfall schien ihren Schutzwall durchbrochen zu haben, sodass die Tränen ihr nun unaufhaltsam über die Wangen strömten.
„Oh, nein“, schluchzte sie, als sie Henrys konsternierten Gesichtsausdruck sah. „Ich … ich bin nur müde“, versuchte sie zu erklären. „In … einer Minute geht es mir schon wieder gut.“
Henry nahm ihr die Scherben aus den zitternden Fingern und legte sie auf das Tablett. Dann half er Marina sanft hoch. „Sie brauchen einfach etwas Schlaf, Miss Marina. Kommen Sie, ich helfe Ihnen nach oben.“
„Da…danke. Sie sind … Sie sind sehr freundlich“, stammelte sie.
„Das ist doch kein Problem. Und Sie sind diejenige, die freundlich ist. Ich kann gut verstehen, warum Seine Lordschaft so hingerissen ist.“
Marina blinzelte überrascht. Auf der Mitte der Treppe blieb sie stehen, um die letzten Tränen fortzuwischen und den alten Diener erstaunt anzuschauen. Mit einer Hand hielt sie das Treppengeländer fest umklammert.
„Warum sagen Sie das, Henry?“, fragte sie unsicher. „Da ist nichts zwischen mir und Seiner Lordschaft. Mein Gott, wir haben uns heute Morgen erst kennengelernt. Er wird sich nächsten Monat verloben, und ich werde etwa um dieselbe Zeit heiraten. Wenn Sie auch nur einen Moment glauben, dass ich mit dem Gedanken an eine verbotene Liaison spiele, dann täuschen Sie sich.“
Aber Henry kümmerte ihr empörter Gefühlsausbruch sichtlich
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