Julia Extra Band 0309
aber dessen Miene war undurchdringlich.
„Meine Großmutter war entsetzt. Sie zwang meine Mutter, mich aufzugeben. Sie hielt sie nicht für fähig, für mich zu sorgen. Sie würde mich aufziehen. Schließlich war Mums Schwester Bridget, die viel jünger als meine Mutter war, auch noch zu Hause. Aber es entwickelte sich für alle Beteiligten zu einem Fiasko. Ich war nur eine Last für meine Großmutter, und sie nahm es mir übel, dass sie nun einen zusätzlichen Esser im Haus hatte. Das war aber nicht so schlimm, viel schlimmer war, dass es das Leben meiner Mutter zerstörte. Sie fühlte sich als Versagerin und ist nie über diesen Verlust hinweggekommen.“
Kerry verstummte. Sie nahm noch einen Schluck Wasser. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Als könne sie sich selbst von oben betrachten. Als säße da eine Fremde auf diesem Sofa, die Theo aus Kerrys Leben berichtete.
Das heißt, Bridget ist eigentlich deine Tante?“, fragte Theo schließlich. „Aber ihr seid zusammen groß geworden?“
„Ja. Für mich ist sie wie eine Schwester. Wir haben gemeinsam unsere Kindheit verbracht, schließlich liegen wir altersmäßig nicht so weit auseinander.“ Nervös knetete sie die Finger im Schoß. Sie bemühte sich, tief und ruhig zu atmen. Zwar hatte sie angefangen, Theo von ihrer Vergangenheit zu erzählen, aber das absolut Schlimmste wusste er noch nicht.
„Weißt du, vielleicht – wenn meine Mutter etwas gefunden hätte, das ihrem Leben einen Sinn gab – vielleicht wäre dann noch alles gut geworden. Aber das war nicht so. Sie fing an zu trinken, und als auch das nicht mehr half, ihren Kummer zu betäuben, nahm sie Drogen. Sie ist an einer Überdosis gestorben.“
„Das tut mir leid. Es muss sehr schlimm für dich gewesen sein.“
„Ich dachte damals, sie wäre meine ältere Schwester. Eigentlich kannte ich sie gar nicht richtig, ich habe sie überhaupt nur ein-oder zweimal gesehen, als ich noch ganz klein war. Meine Mutter – also eigentlich meine Großmutter – hatte sie nach der Geburt hinausgeworfen.“
„Das heißt, sie hat dir nie gesagt, wer deine richtige Mutter ist! Sie hat dich ihr Leben lang angelogen?“ Ungläubig starrte Theo Kerry an.
„Meine Großmutter hat damals gesagt, es sei für alle Beteiligten so am besten. Aber ich nehme an, es ging ihr eher darum, die Schande zu vertuschen. Das alles habe ich erst herausgefunden, als ich eine Geburtsurkunde brauchte, um mir einen Pass ausstellen zu lassen. Damals hatte ich gerade einen Job in einem Reisebüro bekommen.“
Immer noch dachte sie mit Schaudern an den Moment, als sie auf die Geburtsurkunde starrte – unfähig zu begreifen, warum in der Zeile für den Namen der Mutter der Name ihrer älteren Schwester stand.
Zu dem Zeitpunkt war diese bereits tot. Und es war zu spät für Kerry, ihre eigentliche Mutter kennenzulernen.
Erst als die Tränen ihre Wangen hinabliefen, merkte Kerry, dass sie weinte. Tiefe Schluchzer hoben ihre Schultern. Diesmal blieb Theo nicht ungerührt. Er legte den Arm um sie und zog sie an seine Brust.
Und Kerry nahm seinen Trost dankbar an. Sie war unendlich erleichtert, dass Theo sie nach diesem Bekenntnis nicht von sich stieß. Jetzt, wo er die Vergangenheit der Mutter seines Sohns kannte, die alles andere als rosig war.
„Es tut mir so leid. All der Ballast, den ich mit mir rumschleppe – du hättest dir sicher jemand anderes als Mutter deines Sohns vorgestellt.“
„Du musst dich doch nicht für Dinge entschuldigen, für die du gar nichts kannst! Nie würde ich dir deshalb einen Vorwurf machen. Wie kommst du nur auf so absurde Ideen!“ Sanft strich Theo ihr die Haare aus dem tränennassen Gesicht. „Du solltest mich doch besser kennen. Das Einzige, was zählt, ist doch, dass Lucas alles hat, was er braucht, nämlich die Liebe seiner Eltern, die von Vater und Mutter.“ Liebevoll hob Theo Kerrys Kinn und sah ihr in die Augen. „Und – da bin ich mir ganz, ganz sicher – daran wird es unserem Sohn nie mangeln.“
Eine Welle unsäglicher Erleichterung durchströmte Kerry bei Theos Worten. Sie wusste, dass er genau meinte, was er sagte, und dass er nicht schlecht von ihr dachte.
Eine Riesenlast war von ihrer Schulter gewichen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich gesehen, zum ersten Mal hatte sie sich gezeigt. In all ihrer Verletzlichkeit und mit all ihrer Angst. Auf einmal erkannte sie überdeutlich, wie sehr sie sich durch die Last, ein Geheimnis hüten zu müssen, selbst
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