Julia Extra Band 0309
schwer, dann fuhr sie fort: „Ich weiß, wegen Lucas werde ich immer in einer Art Geiselhaft sein.“
Über den Raum hinweg sahen sie sich an wie zwei Gegner im Ring. Aber als sie sich diesmal abwandte, machte Theo keine Anstalten mehr, sie aufzuhalten.
In dieser Nacht schloss Kerry kein Auge. Wie sehr erleichterte es sie, als am Morgen die ersten Geräusche aus dem Kinderzimmer drangen. Leise schlüpfte sie aus dem Bett – obwohl sie bezweifelte, dass Theo noch schlief – und ging zu Lucas. Sie nahm ihn hoch, wickelte ihn und zog ihn an.
Sie wollte Theo nicht begegnen und war froh, als dieser sich sofort nach dem Aufstehen in sein Arbeitszimmer zurückzog. Ruhelos ging sie im Apartment auf und ab. Obwohl die Suite riesig war, hatte sie das Gefühl, dass ihr die Decke auf den Kopf fiel. Theos Anwesenheit allein genügte, um sie unter Druck zu setzen. Es kam ihr vor, als befände sie sich auf einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte.
Schließlich entschied sie sich, mit Lucas einen Spaziergang zu unternehmen. Sie setzte ihn in den Buggy und ging hinaus auf die Straße. Nach der kühlen klimatisierten Luft im Hotel schlug ihr draußen schwüles und stickiges Wetter entgegen, obwohl es erst acht Uhr morgens war. Weil es in den letzten Tagen sehr wechselhaft gewesen war, zog sie die Regenhaube über Lucas’ Kinderwagen, eine Maßnahme, die normalerweise in Athen im Sommer unnötig war.
Sie beschloss, das lebhafte Treiben des Geschäftsviertels hinter sich zu lassen und durch die kleinen gewundenen Gassen bei der Akropolis zu schlendern. Zu dieser frühen Stunde waren noch keine Touristen unterwegs, und die Gegend war wie ausgestorben. Nur ein paar einzelne Ladenbesitzer fegten die Straße vor ihren Geschäften.
Als Kerry ein offenes Café entdeckte, setzte sie sich an einen Tisch und bestellte einen Cappuccino und ein Stück Kuchen. Sie hoffte auf die anregende Wirkung des Koffeins in Verbindung mit dem Zucker des süßen Gebäcks. Die Luft war so drückend, dass Kerry glaubte, sie müsse auf der Stelle niedersinken und einschlafen. Während sie über den Platz blickte und abwesend einen Händler beobachtete, der gerade seinen Souvenirladen öffnete, überfiel sie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Was soll nur aus uns werden, fragte sie sich deprimiert. Ich liebe Theo, aber ich bin ihm überhaupt nicht wichtig . Und das wird sich auch nie ändern. Theo hatte erneut ihr Herz gebrochen – dieses Mal in tausend kleine Stücke. Sie fragte sich, ob sie jemals die Kraft finden würde, sie wieder zusammenzusetzen.
Theo beobachtete das Gesicht seiner Tante Dacia, als der Hubschrauber zur Landung auf der Insel ansetzte. Er kannte sie eigentlich gar nicht richtig. Genau genommen trafen sie sich zum ersten Mal. Er kam kaum darüber hinweg, wie sehr sie seiner Mutter ähnelte. Es war weniger ihr Aussehen als die Gesten, die Art, wie sie sich bewegte – und vor allem ihre Stimme.
Wie mag es für sie sein, nach all der Zeit wieder zurück auf die Insel zu kommen, überlegte er. Es war ihm erstaunlich leichtgefallen, Dacia zu diesem Ausflug zu überreden. Insgeheim hatte er mit mehr Widerstand gerechnet und war davon ausgegangen, dass sie sich strikt weigern und ihm womöglich sogar die Tür vor der Nase zuschlagen würde.
Schweigend gingen sie vom Hubschrauberlandeplatz zum Haus. Verstohlen musterte Theo Dacias Gesicht. Ihre Augen glänzten verräterisch. Dies musste ein zutiefst bewegender Augenblick in ihrem Leben sein.
„Ich kann es noch gar nicht glauben, wieder hier zu sein“, stieß diese schließlich mit gepresster Stimme hervor, als sie an dem Haus ankamen, wo Drakons Assistent sie bereits erwartete.
„Und … hat sich viel verändert?“, fragte Theo, während er ihr die Tür aufhielt.
In meinem eigenen Leben hat sich zumindest so einiges verändert, seit ich Kerry auf diese Insel gebracht habe, setzte er in Gedanken für sich hinzu. Kerry hatte sein ganzes wohlgeordnetes Weltbild auf den Kopf gestellt. Und jetzt bin ich hier … mit meiner Tan te! Zum ersten Mal sind wir uns wirklich nahe. Und in Athen warteten Frau und Kind auf ihn.
Ein Anflug von Ärger überkam ihn, als er an den Streit von letzter Nacht dachte. Kerrys Äußerung, sie könne so nicht mehr weitermachen, hatte ihn tief verletzt. Und dann hatte sie ihm noch – buchstäblich – die ganze Nacht den Rücken zugekehrt.
„Von außen kann ich keinen Unterschied feststellen, und auch innen scheint sich wenig verändert zu haben“,
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