Julia Extra Band 0315
bekommen, der die Sahara in eine Eiswüste verwandelt hätte.
„Er“ – wer?, hatte Maeve nachhaken wollen, doch da sie nicht wirklich mit einer Antwort rechnete, fragte sie stattdessen: „Darf ich zumindest erfahren, wohin ich gehe, wenn ich entlassen werde?“
„Aber natürlich, Liebes“, hatte die Oberschwester in jenem Ton geantwortet, den man bei neugierigen kleinen Kindern benutzte. „Dorthin zurück, wo Sie vorher gelebt haben, zu den Menschen, die Sie lieben.“
Wo immer das sein mochte!
Einige Tage vor ihrer Entlassung hatten die Ärzte ihr gesagt, sie würde zur Rekonvaleszenz an einen Ort namens Pantelleria fahren. Sie hatte nie davon gehört.
„Wer wird dort sein?“
„Dario Costanzo …“
Von ihm hatte sie auch noch nie gehört.
„… Ihr Ehemann.“
Und das hatte sie so sprachlos gemacht, dass sie keine Fragen mehr stellte.
Jetzt standen sie alle um die schwarze Limousine herum versammelt und winkten ihr lächelnd mit den besten Wünschen nach. „Sie werden uns fehlen. Schauen Sie doch mal rein, wenn Sie in der Nähe sind. Aber dann auf eigenen Beinen.“
Und plötzlich, nachdem sie sich tagelang gewünscht hatte, der Rund-um-die-Uhr-Bewachung zu entkommen, hatte sie Angst, diese Menschen zu verlassen. Sie gehörten zu „Nach dem Unfall“ und waren ihr einziger Bezug zur Gegenwart. „Vor dem Unfall“ war ein verloren gegangenes Kapitel im Buch ihres Lebens. Dass sie im Zuge stand, es wiederzufinden, und zu dem Mann zurückkehrte, den sie offenbar während dieser Zeit geheiratet hatte, sollte sie mit Vorfreude erfüllen. Stattdessen löste es pure Panik in ihr aus.
Genau wie der Gedanke, sich unter die Menschenmenge am Flughafen mischen zu müssen. Sie hatte sich doch im Spiegel gesehen. Hager und abgezehrt sah sie aus. Ihr Haar, einst lang und dicht, war jetzt kurz geschnitten und verbarg die gezackte Narbe an ihrer linken Schläfe kaum. Die Kleidung schlotterte an ihr, als hätte sie endlos viele Kilos verloren oder litte an einer unaussprechlichen Krankheit.
Doch als die Limousine den Flughafen erreichte, fuhr der Wagen nicht zum Abflugterminal, sondern bog auf ein separates Gelände ein, wo ein Privatflugzeug wartete und ein freundlicher Steward ihr an Bord half.
Wer war ihr Mann, dass sie Anrecht auf solchen Luxus hatte, sie, die einzige Tochter eines Klempners und einer Supermarktkassiererin, aufgewachsen in einem bescheidenen Viertel von Vancouver?
Sich an die Eltern zu erinnern, die ihre Tochter abgöttisch geliebt hatten, ließ Tränen in ihre Augen steigen. Würden sie noch leben, dann führe sie zu ihnen, zurück zu dem kleinen Haus auf der von Ahornbäumen beschatteten Straße, nicht weit entfernt von dem Park, in dem sie als Siebenjährige das Fahrradfahren gelernt hatte. Ihre Mom würde sie verwöhnen und Brombeerkuchen backen, und ihr Vater würde ihr sagen, wie stolz er auf sie war, weil sie etwas aus sich gemacht hatte. Doch die beiden waren tot, ihr Vater verstarb nur wenige Monate nach seiner Pensionierung, ihre Mutter drei Jahre später. In dem kleinen Haus lebten jetzt Fremde.
Und Maeve, von den emotionellen Anstrengungen des Tages erschöpft und für den Start im Ledersessel eines sündhaft luxuriösen Jets angegurtet, befand sich in diesem Moment auf dem Weg in ein Leben, das für sie nichts als ein einziges großes Fragezeichen war.
2. KAPITEL
Der Steward war zwar nicht unbedingt redselig, aber zumindest nicht so verschlossen wie das Krankenhauspersonal, als Maeve danach fragte, wohin man sie bringe.
„Die Insel heißt Pantelleria“, erklärte er, als er Maeve den exquisiten Lunch servierte. „Man nennt sie auch die schwarze Perle des Mittelmeers.“
„Und die Insel gehört zu Italien?“
„ Sì, signora . Knapp hundert Kilometer der südlichsten Spitze Siziliens vorgelagert und weniger als achtzig Kilometer von Tunesien entfernt. Das liegt in Afrika.“
Den Verstand hatte sie nicht verloren. Sie wusste, wo Afrika war und wo Tunesien lag. Aber Pantelleria? Bei dem Namen klingelte nichts. „Erzählen Sie mir von dieser schwarzen Perle.“
„Ein kleines windiges Eiland, sehr isoliert. Die Straßen sind nicht besonders gut, aber die Reben wachsen dort besonders süß, das Meer ist von einem wunderschönen klaren Blau und die Sonnenuntergänge … magnifico .“
Es hörte sich nach dem Paradies an. Oder nach einem Gefängnis. „Leben dort viele Leute?“
„Außer den Touristen … nein, nicht viele.“
„Habe ich dort lange
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