Julia Extra Band 0316
den Tisch und verließ mit großen Schritten den Raum. Auf dem Weg durch die vielen Korridore des Palastes wurde er immer wütender. Vor der großen Flügeltür des Thronsaals blieb er stehen, um festzustellen, ob Christian noch beim Fürsten war. Auf keinen Fall wollte er dem Jungen Angst machen. Aber drinnen war alles ruhig. Also stieß Leo die Türen auf und betrat den Saal.
Nicholas saß auf dem Thron, ein kleiner, vom Alter gebeugter Mann. Wie immer trug er einen Dreiteiler. Die schmalen, mit Altersflecken bedeckten Hände hatte er über dem Bauch gefaltet.
„Was hast du dir dabei gedacht, Phoebe quasi unmittelbar nach ihrer Ankunft von ihrem Kind zu trennen?“
Forschend sah Nicholas seinen Neffen an. „‚Phoebe‘ heißt sie? Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie nicht herbringen.“
„Ich hatte keine andere Wahl. Sie ist nicht käuflich.“
„Jeder ist das.“
„Phoebe liebt ihren Sohn. Ich habe selbst gesehen, wie rührend sie sich um ihn kümmert.“ Leo hielt inne. „Vor New York hätte ich das auch nicht gedacht.“ Er hatte eine flippige, junge Frau erwartet … Eine Frau eben, die einen Mann heiratete, den sie kaum länger als eine Woche kannte, um sich dann einen Monat später wieder von ihm zu trennen. Aber Phoebe war nicht so eine Frau. Sie hatte sich geändert, war erwachsen geworden, und das erfüllte ihn erstaunlicherweise mit Stolz und Bewunderung.
„Egal, wir finden schon einen Weg, um sie loszuwerden“, wehrte Nicholas Leos Einwand ab.
„Aber sie hat ein Recht auf ihren Sohn.“
„Das hatte deine Mutter auch. Trotzdem hat sie eingesehen, dass sie im Weg war.“
Bei der Erwähnung seiner Mutter stiegen in Leo Emotionen hoch, die er kaum eindämmen konnte. Für einen Augenblick war er wieder der kleine Junge, der am Fenster gestanden hatte und am liebsten laut geschrien hätte, dass sie zurückkommen solle. Er musste sich sehr zusammenreißen, um seinem Onkel gegenüber ruhig zu bleiben.
Du meine Güte, dachte er dann, sah er sich womöglich in Christian wieder? Und in Phoebe seine Mutter? Wie hatte er nur jemals in Erwägung ziehen können, die beiden zu trennen?
„Was hast du mit dem Jungen vor?“ Bemüht, unbeteiligt zu klingen, trat Leo ans Fenster.
Der König zuckte die Schultern. „Ich mag ihn. Er ist mutig. Als er in den Thronsaal kam, hatte er Angst, aber er ist nicht in Tränen ausgebrochen. Er hat sich verhalten wie ein Mann. Er wird ein guter Fürst werden“, fügte er mit einem hinterhältigen Lächeln hinzu.
Leo wirbelte herum. Wie gebannt sah er seinen Onkel an. Dabei hörte er immer wieder dessen Worte: „Er wird ein guter Fürst werden … Er wird ein guter Fürst werden …“ Erst nach einigen Sekunden fand er seine Sprache wieder. „Was meinst du damit?“
„Du hast es gar nicht bemerkt, was? Warum glaubst du, habe ich dich den Jungen herbringen lassen? Um auf Familie zu machen?“
Darauf wollte Leo lieber nicht antworten. Schon vor seiner Reise hatte er geahnt, dass es Nicholas nicht nur darum gegangen war, seinen Enkel kennenzulernen. Aber den Jungen zum Fürsten zu machen?
„Anders hat auf den Thron verzichtet“, erwiderte er schließlich. „Du kannst das nicht widerruf…“
„Kann ich nicht?“ Nicholas sah sehr zufrieden aus, und Leo war vollkommen fassungslos. Wie hatte er nur so dumm sein können, dem flehentlichen Bitten des Fürsten Glauben zu schenken?
„Willst du wirklich die Thronfolge ändern, einfach so, und ein Kind, das du nicht einmal kennst, zu deinem Nachfolger machen?“, fragte er ungläubig.
„Die Thronfolge ist damit wieder bestens geregelt. Du warst die Abweichung. Jetzt wird mein Enkel Fürst von Amarnes.“
„Falls die Parlamentsmitglieder bereit sind, Anders posthum als deinen rechtmäßigen Nachfolger einzusetzen.“
„Das werden sie schon“, behauptete Nicholas siegessicher – womit er wahrscheinlich recht hatte.
Diese Neuigkeit musste Leo erst einmal verarbeiten. Er würde also nicht Fürst werden. Sechs Jahre lang hatte er als offizieller Thronfolger gegolten, der Krone gedient und immer wieder versucht, Nicholas zu beweisen, dass er sie auch verdiente. Obwohl er selbst davon gar nicht überzeugt war.
Es hatte mehrere Jahre aufrechten Lebensstils bedurft, bevor die Presse und das Volk anfingen, an ihn zu glauben, und sich vorstellen konnten, dass er eines Tages ihr Land regierte. Am Ende hatte Leo das Vertrauen des Volkes gewonnen. Aber nicht das des Fürsten.
Leo war nur der Sohn des
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