Julia Extra Band 0326
das Tablett ihren kraftlosen Fingern und fiel scheppernd zu Boden. Wie in Trance bückte sich Maggie und versuchte, einige Scherben aufzunehmen, ließ es dann aber sein.
Was war geschehen? Ihre Welt kehrte sich in einer Sekunde von oben nach unten, aber was sie sah, konnte nicht sein!
Das Frauengesicht, in das sie schaute, demonstrierte ihr nachdrücklich, wie schmal der Grat zwischen Schönheit und Durchschnitt sein konnte – es waren ihre Züge. Oder besser gesagt, es wären ihre Gesichtszüge gewesen, wenn sie symmetrisch wären, mit feiner gezeichneten Lippen und einer aristokratischen Nase. Außerdem war die Fremde deutlich größer als sie und ein paar Kilo leichter.
Inzwischen war es totenstill in der Halle, und alle starrten sie an. Maggie hatte noch nie gern im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden und versuchte verzweifelt, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken, das sich in ihr Bahn brechen wollte.
„Ich … ich habe das Tablett fallen gelassen“, stammelte sie.
Ihre bebende Stimme wirkte wie ein Startschuss für einen erneuten Tumult. Doch diesmal waren dafür in erster Linie die Frau und ein Baby … nein, zwei Babys verantwortlich.
Maggie fühlte sich seltsam unbeteiligt von dem Weinen und Gewirr wütend erhobener Stimmen und gegenseitiger Anschuldigungen. Wie es ihr schien, waren die meisten davon an Rafael gerichtet, der nur schwache Versuche unternahm, sich zu verteidigen. Seit Maggie auf der Bildfläche erschienen war, galt seine Aufmerksamkeit nur noch ihr.
„Wie konntest du!“, klagte die Frau ihn mit bebender Stimme an. „Meine Tochter! Du hast aufs Schmählichste mein Vertrauen missbraucht!“
Maggie sog scharf den Atem ein und versuchte aus dem Albtraum aufzuwachen, der sie seit Minuten umfangen hielt. Sich von dem zu distanzieren, was hier vor sich ging. Und von den Leuten, zu denen sie nicht gehörte.
Die Sehnsucht nach ihrer Familie, nach Menschen, die sie von Grund auf kannten und liebten, wurde plötzlich so übermächtig, dass sie kaum noch atmen konnte. Sie musste etwas tun, wenn sie nicht verrückt werden wollte.
„Nett, sie alle kennengelernt zu haben“, sagte sie mit tonloser Stimme und steinerner Miene. „Aber ich muss jetzt gehen …“
Augenblicklich herrschte tiefes Schweigen um sie herum.
Wie in Zeitlupe sank Maggie auf die Knie, und in der nächsten Sekunde war Rafael an ihrer Seite, nahm sie auf die Arme und fluchte unterdrückt, als er sah, wie stetig Blut aus einem Schnitt an ihrer Hand tropfte.
„Keine Sorge …“, murmelte sie schwach, „… ich hole Schaufel und Besen.“
„Madre de Dios!“ , keuchte Rafael, wandte sich um und schleuderte dem Mann, der erneut einen ärgerlichen Kommentar abgegeben hatte, einen mörderischen Blick zu. Dann wandte er sich abrupt um und eilte, mit Maggie auf den Armen, die Treppe empor. Sie protestierte nicht, wehrte sich nicht … sie tat eigentlich gar nichts, sondern schaute ihn nur stumm an. Doch ihr Blick jagte ihm mehr Angst ein als alles zuvor in seinem Leben.
Behutsam setzte er sie auf dem Bett ab, reinigte und verband ihre Wunde. Dann drückte er ihr ein Glas Brandy in die Hand. Sekundenlang starrte sie es nur dumpf an, dann drehte sie es langsam um und ließ den Inhalt auf den Boden fließen.
„War das da unten das, was ich denke?“
„Ja“, bestätigte er ruhig. „Mein Cousin ist mit deiner Mutter verheiratet.“
Maggies Blick verdunkelte sich, ihre Wangenmuskeln mahlten. „Nein, da täuschst du dich“, sagte sie hart. „Meine Mutter hat sich um mich gekümmert, als ich Windpocken hatte, sie legte sich mit meinem Lehrer an, als der mich ungerecht behandelte, und war bei meiner ersten Schulaufführung anwesend, um mir zu applaudieren. Ich brauche nur eine Mutter. Und diese Frau da unten ist für mich eine Fremde.“
„Ich weiß, dass es für dich sehr schwer sein muss, alles auf Anhieb zu verstehen, aber Angelina war damals noch sehr jung, und ihre Familie …“
Maggie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht einmal ihren Namen hören! Und schon gar nicht, wie traurig und hilflos sie war, verstanden? Ich will gar nichts von ihr!“
„Du bist sehr schnell und hart in deinem Urteil. Hast du denn nie einen Fehler gemacht?“
Seine Frage entlockte ihr ein bitteres Lächeln. „Etliche! Aber angesichts dieser Verfehlung verblassen sie zur Bedeutungslosigkeit.“
Sie sah ihn unter ihren unversöhnlichen Worten zusammenzucken, doch das störte sie nicht. Sie wollte ihn verletzen, mindestens so
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