Julia Extra Band 0332
aufs Ziel halten, ermahnte sie sich.
„Hallo Supermaus! Was machst du denn da oben?“, erklang es plötzlich unter ihr.
Sie fragte sich, wieso ihr an diesem schlimmen Tag aber auch gar nichts erspart blieb. Wenigstens brauchte sie nicht nach unten zu schauen, um festzustellen, wer da stand, denn es gab nur einen Menschen, der sie jemals Supermaus genannt hatte: Adam Wavell.
„Ich bewundere die Aussicht“, erwiderte sie sarkastisch.
„Kannst du Melchester Castle sehen?“, rief er, scheinbar ernsthaft.
Sie hatte schon genug Mühe, nach vorn zu blicken! Dass sie nicht schwindelfrei war, fiel ihr immer leider erst dann ein, wenn sie schon zu hoch nach oben geklettert war, um es sich anders zu überlegen.
„Nein. Warum kommst du nicht rauf und zeigst es mir, Adam?“
„Weil ich befürchte, dass der Ast uns beide nicht trägt.“
Da hatte er bestimmt recht. Der Ast ächzte besorgniserregend, während sie weiter zu dem Kätzchen rutschte, das fauchend vor ihr zurückwich.
May wünschte, sie wäre auf dem Boden geblieben und hätte einfach nur hilflos gewirkt, obwohl sie seit Langem wusste, dass dieser Trick bei ihr nicht funktionierte. Sie war einfach nicht blond, schlank und hübsch genug. Deshalb hatte sie gelernt, selber etwas zu unternehmen, auch wenn sie sich damit oft genug in eine Klemme brachte.
Adam hatte ihr wegen dieses Drangs, andere zu retten, den Spitznamen Supermaus gegeben, als sie ein pummeliger Teenager mit mausbraunen Haaren war und er ein spöttischer, sich intellektuell gebender Schüler an der örtlichen Gesamtschule.
Entsetzt stellte sie nun fest, dass ihre Rettungsaktion einige Zuschauer angelockt hatte. Nächstes Mal rufe ich den Tierschutzverein und überlasse Tiere in Not den Experten, schwor sie sich. Aber dieses Mal musste sie sich und dem Kätzchen noch selber helfen.
„Komm, Miez“, lockte sie das Tier, aber das wich immer weiter vor ihr zurück, dahin, wo der Ast dünner wurde.
Eilig rutschte May ihm hinterher, angefeuert von den Zuschauern, und bekam es schließlich zu fassen. Fauchend schlug es seine winzigen, nadelspitzen Krallen in ihre Hand.
„Reich es mir runter“, forderte Adam sie auf und streckte die Arme nach oben.
„Das ist leichter gesagt als getan“, erwiderte sie. „Mach es vorsichtig los, bitte. Es hängt an mir, im wahrsten Sinne des Wortes.“
Sie hielt die Hand nach unten und stellte dabei fest, wie weit der Boden von ihr entfernt war. Bisher hatte sie sich ja tapfer gehalten, aber jetzt drehte sich alles vor ihren Augen. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, rutschte sie vom Ast.
Da Adam genau unter ihr stand, konnte er nicht mehr ausweichen, und sie landeten beide unsanft auf dem Boden.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert, Supermaus“, meinte Adam, unter ihr liegend.
May versuchte, wieder Luft zu bekommen, aber es war nicht einfach, wenn sie seinen Atem auf der Wange spürte und fühlte, wie sein Herz unter ihrer Hand pochte. Den freien Arm hatte er um sie gelegt.
Ja, das ist der Stoff, aus dem die Träume sind, dachte sie. Mal abgesehen davon, dass es in den vergangenen Tagen ergiebig geregnet hatte und sie nun mit Adam in einer großen, schlammigen Pfütze lag.
„Ach ja, ‚erst handeln, dann denken‘ war schon immer dein Motto“, fügte er hinzu. „Und bei deinen Versuchen, die Welt – genauer gesagt, die Tierwelt – zu retten, bist du meist nass oder schmutzig oder beides geworden.“
„Ja, während du immer so spät dazugekommen bist, dass du nichts weiter zu tun brauchtest, als mich auszulachen“, konterte sie wütend – und ungerecht.
„Du musst zugeben, dass du immer sehr amüsant warst.“
„Ja, wenn man Clowns mag“, stimmte sie missmutig zu.
In einer Hinsicht hatte sie sich jedenfalls nicht verändert: Sie ließ sich von Adam immer noch aus dem inneren Gleichgewicht bringen, ganz so, als wäre sie ein unsicherer Teenager anstatt eine Frau von fast dreißig Jahren.
Damals war sie schrecklich in Adam verliebt gewesen, den hochintelligenten Jungen aus der grässlichen Familie, der wie sie selbst in der Schule ein Außenseiter war.
Das war er aber schon lange nicht mehr, sondern ein äußerst erfolgreicher Mann. Früher lebte er in der scheußlichen Betonwüste der großen Blocks mit den Sozialwohnungen, heute wohnte er in einem luxuriösen Loft. Ja, er hatte seinen Weg gemacht.
May rappelte sich hoch, und Adam stand ebenfalls auf.
„Hast du dir wehgetan?“, erkundigte er sich besorgt.
„Nein,
Weitere Kostenlose Bücher