Julia Extra Band 0347
Seiner Meinung nach pflegten sich Beziehungen zu den Eltern am besten aus der Ferne. Deshalb war er froh, dass seine Mutter im hohen Alter das Internet für sich entdeckt hatte.
Noahs Finger schwebten über den Tasten auf der Suche nach einer möglichen Entschuldigung, um nicht nächstes Wochenende nach Folkstone fahren zu müssen. Schließlich gab er auf und nahm die Einladung an.
Selbstverständlich liebte er seine Eltern. Doch das Haus, in dem sie seit fünfzig Jahren wohnten, strahlte trotz des überbordenden Dekors eine gewisse Trostlosigkeit aus. Ihn verband nichts mit diesem Ort. Keine wohligen Erinnerungen wurden angeregt, weder heitere Abendessen in der Familie noch herzliche Umarmungen oder ein Glas warme Milch beim Zubettgehen.
Seine Mutter gehörte zu der Art von Frau, die von ihrem Kind eher verlangte, die Zähne zusammenzubeißen, als dass sie einen tröstenden Kuss gab. Wenigstens sah er hin und wieder einen Funken Wärme in ihren Augen. Sein Vater hingegen war von Natur aus wie versteinert.
Noah hatte geglaubt, dass wenn er in seine Fußstapfen treten und ebenfalls zur Armee gehen würde, ihm die ersehnte Ankerkennung seines Vaters zuteil werden würde. Doch er hatte sich geirrt. Der alte Mann hatte kaum eine Miene verzogen und nur gemeint, dass nun „endlich ein Mann“ aus ihm werden würde. Den gegenwärtigen Erfolg seiner Bücher bedachte sein Vater nur mit einem seltsamen Schnauben. Doch bei einem seiner Besuche fand Noah unter dem Sessel seines alten Herrn eines seiner Bücher.
Noah seufzte. Grace würde bestimmt nicht so sparsam mit ihren Gefühlen ihrer Tochter gegenüber umgehen.
Wie er sah, waren auch einige Mails von Blinddatesbride.com eingetroffen. Vielleicht war ja eine von ihr.
Eine neue Kandidatin stellte sich vor. Er versuchte Gefallen an den honiggelben Haarsträhnchen und dem strahlenden Lächeln dieser Frau zu finden, deren Profil all seine Erwartungen zu erfüllen schien. Doch als er sich vorstellte, wie sie ihm beim Dinner gegenübersaß, veränderte sich ihr Bild. Das Haar wurde dunkel und ihr Lächeln verschmitzt, während sich eine Braue nach oben schob.
Oje. Er wusste, was das bedeutete.
Schon lange war er sich seiner besonderen Fähigkeit bewusst, Dinge vorhersehen zu können. Es begann als Teenager, als er entdeckte, dass er die Handlungen seiner Lieblingsserien im Fernsehen intuitiv richtig vorhersagen konnte, selbst die verzwicktesten Krimis. Oft wusste er trotz weniger Hinweise, wie sich die Dinge entwickeln würden – auf dem Bildschirm wie auch im richtigen Leben.
Über die Jahre hatte er gelernt, seiner Intuition zu folgen und sein Können zu verfeinern. Sein Agent meinte, dass der Erfolg seiner Bücher hauptsächlich auf seiner Fähigkeit beruhe, komplexe und verschlungene Handlungen zu kreieren, die den Leser überraschten und befriedigten. Manchmal waren seine Eingebungen so stark und ließen sich durch nichts abschütteln. Wenn sein Unterbewusstsein ihn in Alarm versetzte, gab es meist einen Grund, den er aber oft erst sehr viel später erfuhr.
Und seine innere Stimme hatte entschieden, Grace Marlowe zu mögen.
Die Würfel waren also gefallen, und es gab keinen Grund, sich dagegen zu wehren. Er könnte zwar die Sache erst einmal ruhig angehen lassen, um herauszufinden, ob Grace die Richtige sei. Doch im tiefsten Innern war ihm schon jetzt klar, wie alles enden würde oder vielmehr enden musste.
Er würde Grace Marlowe zum Traualtar führen!
Kopfschüttelnd öffnete er die nächste Mail.
Englishcrumpet hat folgende Mail geschickt:
Lieber Noah,
danke für das wunderbare Dinner und die herrlichen Blumen. Es tut mir leid, wenn ich den falschen Eindruck vermittelt habe, aber im Augenblick bin ich nur an einer Freundschaft interessiert. Das ist alles, was ich anbieten kann.
Herzliche Grüße
Grace
Noah verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Nachricht. Das würde die ganze Sache mit der Heirat interessant machen. Er schmunzelte. Interessante Wendungen gefielen ihm.
Freundschaft? Das werden wir sehen.
Vinehurst war schon immer ein pittoresker Stadtteil Londons gewesen, hatte jedoch schwierige Zeiten durchlebt. Kleine Lebensmittelläden, Fleischereien oder Eisenwarenhändler mussten schließen, da die großen Einkaufszentren vor den Toren der Stadt zur Konkurrenz wurden. Viele Geschäfte auf der High Street standen leer oder wurden von Billigläden ersetzt, die Elektronikartikel oder Spielzeug verkauften. Doch in den letzten zehn
Weitere Kostenlose Bücher