Julia Extra Band 348
wieder zu der Frau aus dem Flugzeug wurde, die knapp davor gestanden hatte, sich ihm hinzugeben.
Doch er tat nichts von alldem, sondern blieb reglos stehen. Er atmete nicht einmal, bis sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Erst dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch.
Keine Frage, Anna Orsinis Drohungen hatten Substanz. Substanz? Herrgott, sie hatten das Potenzial, ihn zu zerstören. Es gab Branchen, die Publicity brauchten. Valenti Investments gehörte definitiv nicht dazu.
Mit einem Gangster wie Cesare Orsini in Verbindung gebracht zu werden würde alles ruinieren, was er sich hart erarbeitet hatte. Hier stand mehr auf dem Spiel als nur Geld. Draco könnte das verlieren, woran ihm am meisten lag: die Ehre seines Namens. Den Respekt, den er wieder zurückgewonnen hatte.
Allein sich vorzustellen, dass er sich fast auf Sex mit ihr eingelassen hätte! Mit Cesare Orsinis consigliere! Wäre es nicht so erschreckend, hätte er gelacht.
Doch an der Situation war nichts Lustiges. Wutentbrannt holte Draco die Mappe mit Cesare Orsinis Briefen hervor und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.
Hätte er gestern schon gewusst, wer sie ist, hätte er die Dinge nie so außer Kontrolle geraten lassen. Und je länger er darüber nachdachte, desto weniger verstand er, wie es überhaupt so weit gekommen war. Sie war nicht einmal sein Typ. Zu groß, zu blond, zu schlank. Er zog zierliche Frauen vor. Brünette mit üppigen Kurven … Und dann dieses feministische Gehabe! Welcher Mann würde sich schon mit einer Frau einlassen, die aus jeder Lappalie eine Grundsatzdiskussion machte?
Jetzt, da Draco wieder ruhiger war, erkannte er, dass es die Situation gewesen war und nicht die Frau: die Stille und Dunkelheit in der Kabine, die Abgeschiedenheit in zehntausend Metern Höhe, die aufregende Vorstellung, sich praktisch in der Öffentlichkeit zu befinden. Das, zusammen mit der Tatsache, dass er aufgewacht war und eine Frau an sich geschmiegt gefunden hatte … Welcher Mann hätte die Dinge da nicht zu ihrem logischen Ende führen wollen?
Es musste eine Lösung für das Problem geben. Es gab immer eine Lösung. Er würde die Lösung finden und die Orsinis – Vater und Tochter – aus seinem Leben katapultieren. Schließlich war er ein logisch denkender Mann und durch und durch Pragmatiker. Auf logisches Denken war Verlass. Man durfte den Emotionen nicht erlauben, Amok zu laufen.
Das hatten sein Vater und die Generationen vor ihm nie verstanden.
Sie hatten getrunken und Geld verspielt, das sie nicht hatten. Sie waren jedem Rock nachgejagt und hatten sich in Affären verstrickt, die sie zerstörten. Die Geschichte der Familie Valenti war ein Minenfeld aus Gier, Vergnügungssucht, Untreue und Scheidung.
Seine Kindheit war voller Szenen gewesen, bei denen er heute noch unwillkürlich eine Grimasse zog, wenn er sich an sie erinnerte. Seine Mutter hatte sich mit Liebhabern amüsiert, die ihr dabei geholfen hatten, das Wenige, was vom Valenti-Vermögen übrig geblieben war, auch noch durchzubringen, bevor sie endgültig gegangen war. Zu dem Zeitpunkt war Draco noch ein Kleinkind gewesen.
Sein Vater hatte es nicht viel anders gehalten. Er war zu beschäftigt mit Trinken und Glücksspiel gewesen, um sich um den Sohn zu kümmern. Draco war in großen stillen Räumen aufgewachsen, aus denen seine Familie alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, herausgeholt hatte.
Draco war neun, als sein Vater endlich einmal lange genug nüchtern gewesen war, um sich an seine Verantwortung zu erinnern. Er hatte seinen Sohn in eine Klosterschule gebracht.
Die Oberin hatte Draco abfällig angesehen und leicht die Nase gerümpft. Sie hatte ihm Fragen aus den verschiedensten Wissensgebieten gestellt, und er hatte tatsächlich alle Antworten gewusst. Schließlich verbrachte er zu Hause die meiste Zeit mit den Bänden und Folianten, die noch in der ehemals so stolzen Valenti-Bibliothek verblieben waren. Nur … er bekam keinen Ton heraus.
Die Stimme der Oberin klang so schneidend, und er konnte sein Spiegelbild in ihrer Brille sehen. Es war eine große Brille. Die Oberin hatte ein rundes Gesicht mit einer spitzen Nase, wie eine Eule.
Für Draco war die Oberin mit ihrer Schwesternhaube eine Außerirdische. Er hatte einfach nur panische Angst vor ihr.
„Der Junge ist zurückgeblieben“, entschied sie und packte ihn bei der Schulter. „Lassen Sie ihn bei uns, Hoheit. Und wenn wir ihm nichts anderes beibringen als die Ehrfurcht vor dem
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