Julia Extra Band 348
alles gehabt, was du gebraucht hast.“
„So habe ich es noch nie betrachtet“, erwiderte sie traurig. „Es ist eben leichter zu denken, dass man nur eine bestimmte Sache braucht und sich der Rest dann von allein ergibt.“
Er war überrascht, wie schnell sie ihm recht gab. Allerdings fühlte er sich plötzlich schuldig. In letzter Zeit hatte sie bestimmt mehr durchmachen müssen, als sie ihm erzählt hatte. Es stand ihm nicht zu, die Dinge infrage zu stellen, die ihr offensichtlich Halt gaben.
„Ich muss mich entschuldigen.“
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wofür? Dafür, dass du die Wahrheit ausgesprochen und mich an die Annehmlichkeiten erinnert hast, die ich im Leben genießen durfte?“
Zärtlich nahm er ihr Gesicht in die Hände. Er erkannte, dass sie ihn genauso begehrte wie er sie. Aber es durfte nicht geschehen.
Sie hatte zu viel verloren, zu viel Kummer erlebt. Und sie wollte mehr, als er ihr geben konnte. Veronica wünschte sich eine Familie.
Aber eine Familie war das Einzige, das er ihr niemals würde bieten können.
„Ich wollte deine Wünsche nicht kritisieren. Es ist ja nichts Schlechtes, sich etwas zu wünschen. Vielleicht geht dein Wunsch eines Tages sogar in Erfüllung.“
„Nett von dir“, erwiderte sie leise.
Nett? Er? Beinahe hätte er laut gelacht. „Wenn du mich so sehen möchtest, bitte.“
„So nett wie ein Tiger, der gerade Beute gemacht und seinen Hunger gestillt hat.“
„Oh, nein. Ich habe Hunger, aber ich kann mich beherrschen.“
„Freut mich für dich“, gab sie zurück. „Denn in Bezug auf deine Person verspüre ich überhaupt keinen Hunger.“ Jedem schwächeren Mann hätte das den Todesstoß versetzt.
Dann verschwand sie im Hotel und ließ ihn allein auf dem Bürgersteig zurück. Sein Herz war voller Verlangen, wofür er sich verfluchte.
Veronica wachte mitten in der Nacht auf und rang nach Atem. Sie hatte einen furchtbaren Albtraum gehabt. Ganz gleich, wie kalt es draußen sein mochte, sie brauchte frische Luft. Verschlafen stolperte sie zum Fenster und öffnete es.
Endlich konnte sie durchatmen.
Sie fror zwar, fühlte sich aber schon viel besser. Die Erinnerung an den Traum verblasste allmählich.
Die Tür zu ihrem Zimmer sprang auf, grelles Licht fiel herein und schmerzte in ihren Augen. Alles geschah so schnell, dass sie noch nicht einmal schreien konnte. Das Licht ging wieder aus, und eine Stimme fragte: „Was zum Teufel machst du da?“
Es war Raj.
Wie eine Raubkatze pirschte er sich blitzschnell an sie heran. Mit einer Handbewegung schloss er das Fenster.
„Ich will, dass es offen bleibt.“
„Zu gefährlich“, gab er kurz zurück.
Er knipste die Nachttischlampe an. Das Licht tanzte vor ihren Augen, sodass sie ihn nur unscharf wahrnahm.
„Willst du mir etwa weismachen, dass es zu gefährlich ist, im zehnten Stock das Fenster einen Spalt zu öffnen?“
„Genau.“
Der Mann, der sie vorhin noch geküsst und im Auto getröstet hatte, war jetzt wieder der knallharte Profi, der in ihr nur eine lästige Pflicht sah.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „In was für einer Welt lebst du eigentlich? Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich ebenfalls darin leben möchte.“
„Das tust du bereits. Du hast diese Welt betreten, als du dich für das Amt des Präsidenten hast aufstellen lassen.“
Plötzlich kam ihr ein böser Verdacht. „Woher wusstest du, dass ich das Fenster geöffnet habe?“
„Bewegungsmelder“, antwortete er knapp.
Er hatte Bewegungsmelder in ihrem Zimmer angebracht! Während sie sich zurechtgemacht und an ihn gedacht hatte, hatte er sich lediglich den Kopf darüber zerbrochen, wie er sie kontrollieren konnte.
Eiskalt lief es ihr über den Rücken. Mit sechzehn Jahren war sie einmal heimlich aus dem Fenster geklettert. Danach hatte ihr Vater Bewegungsmelder in ihrem Zimmer angebracht. O ja, diese Taktik kannte sie nur zu gut.
Mit Mühe hielt sie ihren Zorn zurück. Was ihr als Teenager passiert war, hatte nichts mit der aktuellen Situation zu tun. Jetzt trug sie Verantwortung und war tatsächlich auf Sicherheitsmaßnahmen angewiesen. Raj hatte nur getan, was seine Pflicht gewesen war.
„Du hättest mich zumindest informieren können“, sagte sie streng. „Dann hätte ich das Fenster nicht geöffnet.“
„Die meisten Leute kommen mitten im Winter um drei Uhr nachts nicht auf die Idee, das Fenster zu öffnen.“
„Ich lasse mich nicht einsperren“, erwiderte sie, weil Panik in ihr aufstieg.
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