Julia Extra Band 358
Mutter. Das ist doch schön so, oder?“
6. KAPITEL
Alyssa mochte ihm nicht widersprechen. Sie war beeindruckt von der ruhigen Art, in der Lysander ihre Frage beantwortet hatte. Wollte er ihr gegenüber die Maske des Prinzen und Medienlieblings lüften und zeigen, welch ein Mensch in Wirklichkeit dahintersteckte?
Diese Abgeklärtheit passte so gar nicht zu dem leidenschaftlichen Verführer, als den sie ihn in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Auch sein Lächeln wirkte heute eher versonnen als strahlend. Alyssa kam nach einigem Überlegen zu der Einschätzung, dies seien positive und vielversprechende Ansätze und entspannte sich zusehends.
So wohl hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sie brauchte sich um nichts zu kümmern, saß in einem Luxusauto, ließ sich von einem Prinzen durch dessen einzigartige und atemberaubend schöne Heimat chauffieren, und ihr Schützling benahm sich musterhaft.
„Im Gegensatz zu mir hast du bestimmt unzählige Wochenendausflüge mit deinen Eltern unternommen“, bemerkte Lysander unvermittelt.
„Wie bitte?“ Alyssa schreckte aus ihren Träumereien auf. „Da täuschst du dich gewaltig. Meine Eltern haben mich ins Internat gesteckt, weil sie im Ausland arbeiteten, und ich sie nur nervte. Wenn ich sie in den Ferien besuchte, hat ihnen das völlig gereicht.“
„Bitte stell dein Licht nicht unter den Scheffel“, erwiderte er scharf.
Sie sah ihn von der Seite an. „Was ist los? Siehst du nicht die Komik der Situation?“
„Nein. Ich finde es nicht lustig, einem Kind das Gefühl zu vermitteln, lediglich ein Klotz am Bein zu sein.“
Lysander hatte sich getroffen gefühlt, das war offensichtlich. Alyssa schob das auf sein schlechtes Gewissen seinem Neffen gegenüber zurück. „Auf die Idee würde Ra’id nie kommen“, versicherte sie ihm. „Ich habe euch ganz genau beobachtet, er fühlt sich von dir geliebt und verstanden.“
„Ich dachte dabei auch nicht an Ra’id.“
Alyssa lächelte. „Über meine Beziehung zu meinen Eltern brauchst du dir auch nicht den Kopf zu zerbrechen, die belastet mich schon lange nicht mehr.“
Ein Blick in Lysanders Gesicht zeigte ihr, dass sie seine Bemerkung ein zweites Mal falsch interpretiert hatte. Mit grimmiger Miene starrte er durch die Windschutzscheibe. Endlich verstand sie.
„Erzähl mir etwas über deine Kindheit“, bat sie sanft. „Sind die Kahanis eine weitverzweigte Familie? Du hattest nur einen Bruder, das weiß ich, aber wie sieht es mit Cousins und Cousinen aus?“
Er lachte zynisch. „Die königliche Familie besteht nur noch aus Ra’id und mir, und genau das ist Rosaras Problem, auf den Nenner gebracht. Mein Vater war, genau wie ich, der jüngere Sohn. Sein Bruder war König und regierte Rosara mit harter grausamer Hand. ‚Fortschritt‘ war das Wort, das er am meisten hasste. Akil und ich genossen relativ viele Freiheiten, da wir als Söhne des jüngeren Sohns für die Thronfolge nicht in Betracht kamen. Durch den Tod meiner Mutter änderte sich alles.“
Alyssa nickte mitfühlend. „Es muss schrecklich für dich gewesen sein.“
Lysander antwortete nicht gleich und schien sich ausschließlich auf die Piste zu konzentrieren, die hier über Felsen und Geröll führte.
„Ja und nein. Meine Mutter wurde des Ehebruchs bezichtigt – mein fanatischer Onkel ließ sie daraufhin enthaupten.“
„Nein!“ Alyssa schrie erschrocken auf und blickte sich sofort nach hinten um. Doch Ra’id, dessen erste Aufregung sich mittlerweile gelegt hatte, war glücklicherweise in sein Bilderbuch vertieft und hatte von der Unterhaltung nichts mitbekommen.
Erleichtert wandte sich Alyssa wieder an Lysander. „Wann war das?“
„Vor ungefähr dreißig Jahren – kurz nach dem Ausflug, von dem ich dir gerade erzählt habe. In den Unruhen, die der Enthauptung folgten, wurde mein Onkel umgebracht, und mein Vater wurde König. Er sah es als seine Aufgabe, Rosara in die Moderne zu führen, und ich möchte da weitermachen, wo er aufgehört hat.“
Lysander wirkte ungewohnt ernst und entschieden, was ihr gefiel. „Ich kann dich in deinem Vorsatz nur unterstützen. Je eher Rosara Anschluss an das einundzwanzigste Jahrhundert findet, desto besser.“
Seine Züge entspannten sich. „Genau aus diesem Grund möchte ich Ra’id eine normale Kindheit ermöglichen. Akil und ich sind völlig von der Außenwelt abgeschnitten groß geworden. Erst als wir zum Studium nach England geschickt wurden, erfuhren wir, wie das wahre
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