Julia Extra Band 362

genommen. Er ist übermüdet und überdreht.“
    Rafe nickte schweigend und startete den Motor. Marisa hätte sich gerne ein wenig entspannt, doch es funktionierte nicht. Alle ihre Sinne waren angespannt und gereizt, wie in Erwartung einer unbekannten Gefahr.
    Keir auf dem Rücksitz verhielt sich mucksmäuschenstill. Nach einer Weile hatte er sich so weit erholt, dass er leise ein Lied aus der Schule sang, etwas über ein Auto. Das Lied wurde von einem jähen Schrei unterbrochen. Marisa fuhr erschreckt herum.
    „Schau, Mummy! Kamele!“
    Der Wagen verlangsamte sein Tempo, Marisa schüttelte den Kopf. „Das sind Verwandte von Kamelen. Sie heißen Alpakas.“
    „Alpakas.“ Er freute sich, ein neues Wort gelernt zu haben. „Mummy, was sind ‚Verwandte‘?“
    „Verwandte gehören zu einer Familie“, erklärte sie. Sie war sich bewusst, dass Rafe ihrem Gespräch lauschte. „Du bist zum Beispiel mit mir verwandt.“
    „Nana und Poppa auch?“
    „Ja.“
    „Und auch Tanten und Onkel, so wie Traceys Tante Rose?“
    „Genau. Kamele und Alpakas sind sich so ähnlich wie Cousins und Cousinen.“
    Während Keir das Gesagte verdaute, bemerkte Rafe: „Alpakas kommen aus Südamerika und sind begehrt wegen ihrer kostbaren Wolle.“
    „Darf ich die Alpakas streicheln?“, fragte Keir von hinten.
    „Es könnte sein, dass sie nicht ganz zahm sind“, gab Marisa zu bedenken. „Mr Peveril wird darüber mehr sagen können.“
    „Ich fürchte, ich weiß auch nicht mehr“, entgegnete Rafe. „Aber ich kann mich schlau machen.“
    „Das ist nicht nötig“, gab Marisa rasch zurück. „Ich werde mich selbst erkundigen.“
    Sie hatten Glück. Ihre Bemerkungen stellten Keir zufrieden. Er lehnte sich zurück und summte vor sich hin, während die Landschaft an seinem Fenster vorbeizog. Marisa hatte sich etwas beruhigt und sah ebenfalls hinaus. Ihr Blick schweifte über die Hügel und tiefen Täler in diesem Teil von Northland. Am Horizont machte sie eine dunkle Rauchfahne aus. Sie schluckte.
    „Haben Sie in der Stadt gelebt, bevor Sie hierher aufs Land gekommen sind?“, wollte Rafe wissen.
    „Ja“, antwortete sie etwas zu steif. Ihr missfiel die Richtung, die dieses Gespräch nahm. Dabei wollte Rafe nur Small Talk machen, um die Pausen zu füllen.
    „In Auckland?“
    „Auf South Island“, sagte sie leidenschaftslos. Sie hatten in Invercargill gelebt, der südlichsten Stadt Neuseelands. Sie war so weit weg von Auckland, wie es nur ging. Kühl sagte sie: „Mir scheint, Ihr Anwesen liegt an der Küste.“
    Er neigte den Kopf. „Das Haus befindet sehr nahe am Strand.“
    Dass das Wort Haus weit untertrieben war, sah sie bei ihrer Ankunft auf Manuwai. Sie hatten sich ein paar Kilometer von der Hauptstraße entfernt und fuhren durch gepflegte Koppeln. Ein breiter Gürtel aus Kanukabäumen trennte das Haupthaus von den Wirtschaftsgebäuden. Der würzige Duft des Laubwerks hüllte sie ein, als der Wagen im Schatten der Bäume weiterfuhr. Der Ruf der Zikaden, die sich hoch oben im Geäst versteckten, hallte weithin laut durch die Luft.
    Ein angenehmes Gefühl der Freude erfüllte Marisa. Tief einatmend lehnte sie sich im Sitz zurück. Vor ihnen kreuzte die Einfahrt eine mit hohem Gras bewachsene Koppel. Daran angrenzend stand inmitten von Gärten ein solide gebautes Herrenhaus, direkt am Meer.
    Marisa sah sich weiter um. Halb verdeckt von Bäumen mündete ein beckenförmiger Zufluss in ein Gewässer mit niedrigen, buschbewachsenen Klippen. Sie stellte fest, dass sich das Anwesen auf der nördlichsten Landzunge befand. Gegenüber erstreckte sich ein langer, mit silbrigem Rosa übergossener Sandstrand.
    „Im Norden der Ozean, im Süden die Bucht“, erklärte Rafe. „Es war immer der einzig sichere Hafen in dieser Zone und diente bei Schlechtwetter den Lastschiffen, die flussauf, flussab Güter transportiert haben, als Zuflucht, bis später das Straßennetz errichtet wurde.“
    „Es ist wundervoll“, rief Marisa mit ehrlichem Erstaunen aus.
    Etwas Glitzerndes fiel ihr ins Auge. Sie wandte den Kopf und sah einen Hubschrauber, der vor einem kleinen Hangar abgestellt war.
    Aber klar, dachte sie und tadelte sich selbst, weil sie einen Moment erstaunt gewesen war. Selbstverständlich stand für Rafe Peveril ein Helikopter bereit. Ob er das Ding wohl auch selbst flog?
    Wahrscheinlich …
    Rafe deutete auf ein mit orangefarbenen Ziegeln gedecktes, altehrwürdiges Gebäude, das von uralten Bäumen eingesäumt wurde.
    „Dieses