Julia Extra Band 362
seiner toten Schwester und ihrem Andenken. Seine Mutter hatte ihn im Stich gelassen, wohingegen Loredana ihn gerettet hatte.
„Und wie kam es dazu, dass du deine Schulferien in diesem Haus verbracht hast?“, fragte sie.
„Loredana war eine reiche Erbin, gioia mia . Mein Onkel drängte sie, den Palazzo weiterhin als ihr Zuhause zu betrachten, weil er hoffte, sie würde einen seiner Söhne heiraten und das Geld zurück in die Familie bringen. Deshalb hat er auch erlaubt, dass sie mich mit herbrachte. Entweder das, oder ich hätte das ganze Jahr im Internat verbringen müssen“, seufzte er. „Meine Schwester hat mich genau so akzeptiert, wie ich war. Es ist ihr nie in den Sinn gekommen, dass ihre arroganten Cousins es gar nicht lustig finden würden, den Sohn eines Drogendealers und eines Junkies als Gast im Haus zu haben.“
Sie runzelte die Stirn. „Aber das warst du nicht.“
„Sie haben es aber geglaubt. Meine Cousins haben mich oft mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt und geschlagen und getreten, damit ich bloß auf keine falschen Gedanken komme. Von ihnen habe ich auch erfahren, dass meine Mutter ihren Körper verkaufte, um zu überleben.“
Zara wurde blass. „Ich wette, du hast nicht mal deiner Schwester erzählt, was da vor sich ging.“
„Natürlich nicht. Ich habe sie angebetet. Sie dachte, die Barigos würden mir einen Teil des Zuhauses und Familienlebens geben, den sie mir nicht geben konnte.“ Um seine Mundwinkel zuckte es. „Sie war sehr vertrauensselig, dachte von jedem nur das Beste …“
„Wie alt warst du, als sie starb?“
„Dreizehn.“
„Und wie hast du rausgefunden, wer dein leiblicher Vater war?“
Vitale zog eine Grimasse. „Die DNA-Tests zur Identifizierung von Loredanas Leiche ergaben, dass wir Vollgeschwister waren. Ich entschied mich, diese Nachricht für mich zu behalten. Sie hatte ihr Testament nicht geändert, um mich zu begünstigen, aber ein Teil ihres Besitzes wurde vom Gericht auf die Seite gelegt, um meine Schul- und Lebenshaltungskosten abzudecken. Mein Onkel bekam den Rest, und da er sich vor dem fürchtete, was die Leute denken könnten, bestand er darauf, dass ich auch weiterhin meine Schulferien im Palazzo Barigo verbrachte.“
„Deine Schwester war viel zu kurz ein Teil deines Lebens. Das ist so traurig“, murmelte Zara, die sich nur zu gut vorstellen konnte, wie schmerzhaft es für ihn als Junge gewesen sein musste, der nie Liebe oder Zuneigung von jemand anders erfahren hatte. „Schenk mir irgendeinen positiven Gedanken zu diesem Palazzo, Vitale.“
„Das ist doch kindisch, cara mia “, stöhnte er und verdrehte dabei die Augen.
„Ist es nicht … manchmal hast du es an dir, die Dinge viel zu negativ zu sehen.“
Ein klägliches Lächeln spielte um seinen wohlgeformten Mund. „Ich habe den Tempel oberhalb des Sees als Erinnerung an Loredana in Auftrag gegeben. Auf dem Hügel hat sie sich besonders gern aufgehalten …“
„Das ist ein bisschen gemogelt – gleichzeitig positiv und negativ“, rügte Zara.
„Ich werde nichts in Auftrag geben müssen, um mich an dich zu erinnern“, neckte er sie mit plötzlicher Heiterkeit. „Du hast bereits überall in diesem Haushalt deinen Stempel hinterlassen, egal, wohin ich schaue.“
Die großen vergoldeten Antiquitäten waren bereits eingelagert und durch zeitgemäßere Möbelstücke aus Eiche ersetzt worden, die erstaunlich gut mit den Seidentapeten an den Wänden harmonierten. Es waren gemütliche Sitzecken geschaffen worden mit zahllosen Kissen und Überwürfen, ungewöhnliche Töpferarbeiten und Blumenarrangements schmückten die dunklen Ecken und verliehen zusätzliches Ambiente. Edmondo, der diese Nestbauansätze uneingeschränkt begrüßte, hatte die neue Hausherrin Vitale gegenüber als „Naturgewalt“ beschrieben.
„Du musst dich nicht an mich erinnern“, versetzte Zara. „Ich gehe ja nicht weg.“
Plötzlich fiel sein Blick auf die kleine Uhr auf dem Nachttisch, worauf er im nächsten Moment kerzengerade im Bett saß. „Mein Gott, es ist ja schon fast sechs!“
Es dauerte keine zehn Sekunden, und Vitale hatte das Bett verlassen und die Dusche im angrenzenden Bad angestellt. Zara blieb steif wie ein Brett liegen. Sie wusste ganz genau, warum Vitale es so eilig hatte. Na ja, einerseits wusste sie es, andererseits auch nicht …
Es war wieder mal Freitag, und an jedem Freitagabend der letzten fünf Wochen war Vitale allein ausgegangen und nicht vor zwei Uhr nachts
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