Julia Extra Band 362
schüttelte den Kopf. „Trotzdem, irgendwie …“
„Mom? Jetzt warte doch mal, da kommt man ja kaum mit“, meldete sich jetzt eine zweite weibliche Stimme atemlos zu Wort. Eine Sekunde später tauchte eine jüngere Ausgabe von Mrs Grey auf. Sie trug ein Bündel im Arm, oder war das eine Decke? Als Karim genauer hinsah, stockte ihm der Atem. Es war ein Kind. Ein Säugling, der ihm irgendwie unheimlich bekannt vorkam …
Rachel, die bei der Nachricht von Ramis Tod kaum mit der Wimper gezuckt hatte, entfuhr ein gepresster Laut. Karim riss seinen Blick von dem Kind los und schaute zu ihr.
Sie zitterte am ganzen Körper.
Fast wie in Trance streckte Karim die Hände nach dem Kind aus, nahm es von der jüngeren Frau entgegen. Dankte den beiden Frauen. Sagte irgendetwas Höfliches. Schloss die Tür. Dann schaute er auf das Baby in seinen Armen.
Erkannte die Augen seines Bruders. Ramis Nase.
Und Rachel Donnellys Mund.
3. KAPITEL
Die Erde schien stillzustehen. Karim hatte das immer für einen abgedroschenen Satz gehalten, doch nun musste er sich tatsächlich anstrengen, um Atem zu schöpfen. Das war unmöglich. Dieses Kind hatte nichts, aber auch gar nichts mit seinem Bruder zu tun.
Und die Ähnlichkeiten?
Er holte noch einmal sehr tief Atem. Rami hätte ihm bestimmt erzählt, wenn er ein Kind hätte. Sie waren schließlich Brüder gewesen. Auch wenn sie zuletzt länger keinen Kontakt mehr gehabt hatten, hätte Rami so eine wichtige Neuigkeit bestimmt nicht für sich behalten.
„Bla“, brabbelte das Baby, „blablabla.“
Karim starrte auf das Kind hinunter.
Ganz genau. Blabla. Natürlich hätte Rami es für sich behalten, genauso wie er seine Spielschulden und seine Drogensucht für sich behalten hatte. Über Fehler sprach man nicht, und in ihrer Welt war ein uneheliches Kind definitiv ein Fehler. An gewisse Spielregeln hatte sich sogar Rami gehalten.
Rachel Donnelly stand reglos wie eine Statue vor ihm und schaute unverwandt auf das Bündel in seinen Armen.
„Geben Sie mir das Baby!“ Ihre Stimme war leise und brüchig, aber ihr Gesicht hatte wieder ein bisschen Farbe bekommen. Warum hat sie so panisch reagiert? fragte sich Karim. Falls Rami wirklich der Vater dieses Kindes sein sollte, wäre das für sie doch die Gelegenheit! Das Kind war eine Goldgrube.
Hatte Rami sie verlassen, weil sie schwanger geworden war? Zweifellos ein hässlicher Gedanke, aber inzwischen traute Karim seinem Bruder alles zu. Wie hatte Rami bloß so leichtsinnig sein können?
Oder war er in eine Falle getappt? So etwas kam schließlich vor. Karim war nicht naiv. Frauen waren berechnende Wesen. Seine eigene Mutter war bereits mit ihm schwanger gewesen, als seine Eltern geheiratet hatten. Darüber war stets der Mantel des Schweigens gebreitet worden, aber er konnte zählen.
Ein Fausthieb traf seine Schulter. Karim blinzelte überrascht. Die Frau stand neben ihm, mit vor Wut blitzenden Augen. „Sind Sie taub? Geben. Sie. Mir. Das. Baby!“
Das Kind wimmerte leise. Sein kleiner Mund – ein perfektes Abbild ihres Mundes – begann zu zittern. Karim kniff die Augen zusammen. „Wessen Kind ist das?“
„Was soll das werden? Ein Verhör? Geben Sie mir Ethan und verschwinden Sie!“
„Ethan?“
„Sein Name. Und er ist Fremden gegenüber misstrauisch.“
Karim verzog höhnisch den Mund. „War er meinem Bruder gegenüber auch misstrauisch?“
„Ich würde Ihnen ja gerne sagen, dass Sie meine Gastfreundlichkeit strapazieren, Scheichheit, aber Sie sind ja nie mein Gast gewesen!“
„Ich wiederhole meine Frage“, beharrte er zähneknirschend vor Wut. „Wem gehört das Kind?“
„Es gehört nur sich selbst. Als Amerikaner weiß man, dass ein Mensch niemals ein Besitz sein kann, aber das scheint sich bei Leuten wie Ihnen noch nicht herumgesprochen zu haben.“
„Eine reizende Rede. Wenn Sie die an Ihrem Nationalfeiertag halten, bekommen Sie bestimmt viel Beifall. Also noch mal: Wessen Kind ist das?“
Rachel nagte an ihrer Unterlippe. Nun, das war eine gute Frage. Suki und Rami hatten Ethan gezeugt. Suki hatte ihn zur Welt gebracht. Aber sie, Rachel, hatte ihn vom ersten Tag an wie ihren eigenen Sohn geliebt und für ihn gesorgt.
Für Suki war ihr immer dicker werdender Bauch ein neun Monate währendes Ärgernis gewesen, vor allem nachdem ihr gedämmert war, dass Rami gar nicht daran dachte, sie zu heiraten. Im Gegenteil. Er hatte seine Sachen gepackt und war noch vor Ethans Geburt verschwunden. Und so hatte denn
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