Julia Extra Band 362
recht nicht, schon deshalb machte es überhaupt keinen Sinn, hier herumzustehen und sich in lächerlichen Fantasien zu verlieren.
Er ging mit schnellen Schritten durchs Zimmer zur Tür, anschließend über den Flur zur Treppe. Er brauchte jetzt sofort einen Whiskey, am besten einen doppelten. Dann ins Bett fallen und endlich einschlafen –
Was war denn das? Ein schwaches Geräusch. Der Wind?
Da war es wieder. Das Baby. Rachel hatte irgendwann erwähnt, dass der Junge zahnte. Himmel. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein schreiendes Kind …
Das Weinen verstummte.
Karim wartete, aber alles blieb still. Entweder war das Kind eingeschlafen oder Rachel hatte es beruhigt …
Der Fußboden im Wohnzimmer war mit hellen Flecken aus Mondlicht gesprenkelt, die sich in der schemenhaften Dunkelheit des über vier Meter hohen Raumes verloren. Karim ging weiter in sein Arbeitszimmer, hin zu dem Teakholz-Regal mit der Steuben-Karaffe … Verdammt! Jetzt weinte das Kind schon wieder. Rachel kümmerte sich offenbar doch nicht um den Kleinen, obwohl es ja ihre Aufgabe war. Das Geschrei war ärgerlich.
„Mist“, brummte Karim in sich hinein. Er stellte das Glas ab und verließ sein Arbeitszimmer. Dann ging er eilig die Treppe hinauf über den langen Flur bis zu der Suite, in der Rachel und der Junge untergebracht waren. Die Außentür war geschlossen. Er klopfte.
„Rachel?“
Keine Antwort. Na toll. Sie schlief offenbar wie in Abrahams Schoß, während er sich bis jetzt die Nacht um die Ohren gehauen hatte. Er versuchte es erneut. Klopfte lauter, rief ihren Namen. Immer noch nichts. „Verdammt“, murmelte er, bevor er die Tür öffnete und das menschenleere Wohnzimmer betrat. Das Weinen war mittlerweile verstummt, aber wahrscheinlich nur vorübergehend. Er musste Rachel wecken und ihr sagen, dass sie das Kind beruhigen sollte. Er hatte morgen einen harten Tag vor sich und benötigte seinen Schlaf. Eilig durchquerte er das Wohnzimmer, von dem zwei Türen abgingen. Die erste Tür war nur angelehnt. Nach kurzem Zögern schob er sie leise auf.
Hier deutete nichts auf die Anwesenheit eines Kindes hin. Er sah nur ein Bett, das genauso zerwühlt war wie sein eigenes. In der Luft lag ein schwacher Zitronenduft. Rachels Duft.
Es war ein Duft, der zu ihr passte, frisch und zart. Und ehrlich.
Ehrlich? Ja. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, dass sie aufrichtig war, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.
Karim versuchte gereizt, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Er war wegen des Kindes hier und nicht, um alle möglichen Spekulationen über sie anzustellen.
Wieder im Wohnzimmer, wandte er sich der zweiten Tür zu, die ebenfalls einen Spaltbreit geöffnet war. Er drückte sie noch ein Stück weiter auf und betrat den Raum. Ja, das war das Kinderzimmer. Das Kinderbett. Kartons mit Babysachen, die er bestellt hatte. Der weiche Schein einer Lampe …
Und Rachel.
Sie schlief zusammengerollt in einem großen Sessel, bekleidet mit einem hochgeschlossenen weißen Baumwollnachthemd, das lang genug war, um ihre angezogenen Füße zu bedecken. In ihrem Arm lag das Kind, das wieder eingeschlafen war. Das offene Haar fiel ihr lang und glänzend über die Schultern. Bei dem Bild, das sie bot, schnürte sich Karim die Kehle zu.
Er hatte diese Frau im Glitzerbikini gesehen, in Jeans und … und sogar nackt, und immer hatte er sie schön gefunden. Aber jetzt wirkte sie so perfekt und verletzlich, dass ihm ihr Anblick den Atem verschlug. Er wollte sie. Er wollte sie mehr als jede andere Frau in seinem Leben. Bei dieser Erkenntnis atmete er tief und zitternd durch.
Aber sie war tabu für ihn. Nicht nur, weil sie Rami gehört hatte, sondern auch, weil es die Dinge nur noch komplizierter machen würde. Er trug eine Verantwortung, hatte eine Pflicht zu erfüllen. Es ging allein um den Jungen, um nichts sonst. Seine eigene Befindlichkeit spielte dabei keine Rolle. Er war nicht so egoistisch wie seine Mutter oder wie Rami. Er war nicht …
„Blablabla.“
Das Baby war wach und betrachtete ihn aus großen blauen Augen. Karim schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. „Pst.“ Das war ein Fehler. Die Lippen des Kleinen begannen zu zittern. Er gab einen Laut von sich, der kein richtiger Schrei war, aber fast. Karim schüttelte wieder den Kopf. „Nein“, flüsterte er. „Bitte nicht weinen. Sonst wacht Rachel auf.“
Die Mundwinkel des Kindes zogen sich nach unten, sein Gesicht verdüsterte sich
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