Julia Extra Band 362
romantisch? Lächerlich.
New York war kein bisschen romantisch. Jedenfalls hätte er das bis vor zehn Tagen im Brustton der Überzeugung behauptet. Und nun das! Rachel hatte sein Leben verändert. Er lebte seit einem Jahrzehnt in New York, aber jetzt sah er die Welt mit völlig anderen Augen.
Hand in Hand mit Rachel entdeckte er die Stadt neu. Sie fanden gemütliche Cafés, hübsche kleine Parks, verschwiegene Orte, wo man aller Großstadthektik zum Trotz das Gefühl hatte, ganz allein auf der Welt zu sein. Und Karim gelang tatsächlich das Kunststück, seine Braut davon zu überzeugen, dass es keineswegs verwerflich war, wenn sie sich von ihrem Bräutigam in einem halben Dutzend eleganter Boutiquen herrlich fließende Sommerkleider, zarte Seiden – und Spitzenunterwäsche sowie mehrere Paar Schuhe kaufen ließ, deren Anblick ihr kleine Entzückensschreie entlockte.
Absätze? Na klar, warum nicht? „Aber bloß keine Stilettos“, sagte sie, theatralisch erschauernd. Da erst erzählte sie ihm, dass sie kein Revuegirl gewesen war, sondern eine ganz normale Kellnerin, die ihre „Dienstkleidung“ gehasst hatte. Und während sie sprach, hatte sich ihr Gesicht so verdüstert, dass Karim sie mitten auf der belebten Kreuzung von Spring und Mercer Street in den Arm genommen und geküsst hatte.
Für Karim war die Stadt in jeder Hinsicht, die zählte, genauso neu wie für Rachel, sogar die Restaurants, obwohl er schon überall gewesen war. Natürlich kannte er das Four Seasons und das Daniel oder das La Grenouille, aber anlässlich von Geschäftsessen waren das völlig andere Orte gewesen als in Begleitung der Frau, die er liebte.
Die Frau, die ich liebe, dachte er immer noch ungläubig, während er jetzt mit Rachel an einem intimen Zweiertisch im River Café saß. Die Lichter Manhattans glitzerten in der Dunkelheit und spiegelten sich in den dunklen Fluten des East Rivers jenseits der Glaswand neben ihrem Tisch. Um Karims Mund huschte ein sehr intimes Lächeln. Er liebte Rachel, und Rachel liebte ihn. Bis er sich an diesen Gedanken gewöhnt hatte, würde es allerdings noch eine Weile dauern.
Es gab so vieles, was ihm durch den Kopf ging. Das fing an, wenn er morgens im Bett neben ihr erwachte, und endete erst, wenn er abends mit ihr einschlief.
Unvorstellbar, dass er während der ganzen Zeit nur zweimal im Büro gewesen sein sollte, und doch war es so. Er hatte immer wieder alle Termine abgesagt und seiner Assistentin eingeschärft, keinerlei Anrufe an ihn weiterzuleiten. Er war für niemanden zu sprechen, außer für Rachel. Oder für Ethan.
Der Kleine war natürlich das intelligenteste, reizendste Kind, das die Welt je gesehen hatte. Er kreischte vor Vergnügen, wenn Karim ihn durch die Luft schwenkte und grinste verzückt, wenn er ganz sacht in seinen Bauchnabel blies.
Karim war glücklich. Himmel ja, er war zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich glücklich! Obwohl er in Rachels Augen schon mehrmals einen Ausdruck erhascht hatte, der ihm nicht ganz geheuer war. So wie auch jetzt wieder … als ob sie einer schmerzlichen Erinnerung nachhinge.
„Liebste?“, fragte er leise. Er sah, dass sie schluckte. Und schon war der düstere Ausdruck wie weggewischt, und sie lächelte wieder. Karim zog ihre Hand an seine Lippen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Aber ja.“
„Bist du sicher? Du hast eben so … so traurig geschaut.“
Sie schüttelte den Kopf, ergriff seine Hand und küsste nacheinander jeden Fingerknöchel. „Wie könnte ich traurig sein, wenn ich mit dir zusammen bin? Und wo es hier doch so wunderschön ist?“
„ Du bist wunderschön“, sagte Karim.
Und Rachel dachte dasselbe, was sie eben schon einmal gedacht hatte: Wenn man bloß eine Lüge ungesagt machen könnte. Oder wenn man die Zeit anhalten könnte .
Als Kind war die Zeit für sie im Schneckentempo vergangen, obwohl oder vielleicht weil sie sich gewünscht hatte, ganz schnell erwachsen zu werden, um nicht länger den Launen ihrer Mutter ausgeliefert zu sein. Damals wäre sie im Traum nicht auf die Idee gekommen, sich zu wünschen, die Zeit möge stehenbleiben. Weil sie nie glücklich gewesen war.
Was Glück war, hatte sie erst mit vierundzwanzig Jahren erfahren. Das war an dem Tag gewesen, an dem Suki ihr Ethan überlassen hatte. Und jetzt war sie wieder glücklich. Wegen Karim. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn wie verrückt. Es gab Momente, da konnte sie kaum atmen vor Freude und Glück.
Als der Kellner an ihren Tisch kam,
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