Julia Extra Band 363
beobachtete. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und er schien mehrmals ein Gähnen zu unterdrücken. Hatte er nach ihrem gestrigen Zusammentreffen ebenso schlecht geschlafen wie sie selbst? Schließlich siegte Emmas Neugier. „Es war wohl eine lange Nacht, Gianni?“
Er vergewisserte sich, dass noch keine Patienten anwesend waren, bevor er ihr antwortete. „Ja, ich war lange auf, weil ich etwas im Internet recherchiert habe.“
Und sie hatte sich eingebildet, der Grund für seine Schlaflosigkeit zu sein. Wie naiv sie doch war. „Das kenne ich. Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man vor dem Bildschirm sitzt“, antwortete sie mit betonter Leichtigkeit. „Am besten man schaltet das Gerät vor einem anstrengenden Arbeitstag gar nicht erst ein.“
„Nun, wir alle haben eine Wahl zu treffen.“ Sein nüchterner Unterton ließ Emma aufhorchen.
Wie meinte er das? Offenbar war er heute nicht zum Scherzen aufgelegt. Doch bevor sie nachhaken konnte, öffnete sich die Tür und drei vertraute Gestalten betraten den Raum. „Gianni, darf ich dir Lukas und seine Eltern vorstellen“, sagte sie schnell. „Der Kleine leidet an der Bluterkrankheit. Es sieht aus, als sei er gestürzt.“
Emma beobachtete Gianni nachdenklich, während er die kleine Familie begrüßte und den Jungen untersuchte. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Vielleicht hatte er schlechte Nachrichten von zu Hause erhalten? Einmal mehr rief sie sich ins Gedächtnis, dass er auf der anderen Seite der Welt lebte. Schon deswegen hätte eine Beziehung zwischen ihnen keine Zukunft.
Zu diesem Schluss war sie letzte Nacht gekommen. Eine Affäre mit Gianni Bonmarito konnte kein gutes Ende nehmen. Konsequent ignorierte sie die innere Stimme, die ihr zuflüsterte, dass es ohnehin keine Garantien im Leben gab und sie jeden Tag nutzen sollte, der ihr blieb.
Aber das tat sie ja auch. Schließlich hatte sie eine Tochter und einige enge Freunde, die sie über das Huntington-Netzwerk kennengelernt hatte. Nicht zuletzt waren ihre Kollegen und Nachbarn in Lyrebird Lake für sie wie eine zweite Familie.
Ein gebrochenes Herz war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Und mehr würde ihr von Gianni nicht bleiben, wenn er nach Italien zurückkehrte.
Trotzdem fühlte sie sich manchmal einsam.
Wieder öffnete sich die Tür, und Emmas Brüder, Russell und Craig, schoben einen weiteren Patienten auf einer Liege herein. Wie immer versetzte es ihr einen Stich ins Herz, die beiden zu sehen. Russell war trotz des Wissens um seine Krankheit fest entschlossen, ein normales Leben zu führen. Mittlerweile war er mit einer wunderbaren Frau verheiratet, und mithilfe der Präimplantationsdiagnostik wollten sie bald versuchen, genetisch gesunde Kinder zu zeugen. Emma bewunderte ihre Brüder für deren Tapferkeit und Lebensmut. Leider war sie selbst nicht so mutig.
Dann erkannte sie den Mann auf der Liege und vergaß ihre eigenen Sorgen. Es war Seamus, Christines Ehemann, ein gebürtiger Ire und begnadeter Mechaniker, der auf Oldtimer spezialisiert war. Erst vor einigen Wochen war er aus Afrika zurückgekehrt, wo er im Auftrag eines hochrangigen Politikers ein antikes Feuerwehrauto restauriert hatte. Anscheinend hatte seine und Christines Hochzeitstagsfeier ein jähes Ende gefunden. Seamus’ von Natur aus blasses Gesicht glühte vor Fieber, und seine roten Haare waren schweißverklebt. Unruhig warf er sich hin und her.
Als Russell und Craig ihn auf ein Bett hoben, verzog er qualvoll das Gesicht und hielt schützend eine Hand vor seine Knie, als litte er an schrecklichen Gliederschmerzen. Sein Körper schien zu glühen. „Was ist los mit ihm?“, fragte Emma alarmiert.
„Gestern waren wir noch zusammen angeln, da ging es ihm prima“, antwortete Craig. „Er sagt, die Symptome seien heute Morgen plötzlich aufgetreten. Ich fürchte, sein Zustand hat sich inzwischen noch verschlechtert.“
Emma rief nach Christine und Gianni, die sich gerade um den kleinen Lukas kümmerten, und schloss Seamus an den Monitor zur Überwachung der Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung an. Beide erreichten gleichzeitig das Krankenbett. Verstört ergriff Christine die Hand ihres Ehemannes. „Was hat er denn?“
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Emma. „Seamus ist Christines Mann“, fügte sie erklärend für Gianni hinzu. „Christine, soll ich drüben für dich weitermachen?“
„Oh.“ Christine sah sie aus besorgten Augen an. „Danke, Emma.“
Emma wechselte auf die andere
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