Julia Extra Band 370
einem der Betten und blickte wütend hoch an die Decke. Konnte eine Decke eine noch trostlosere Farbe haben?
Konnte sie noch mürrischer sein?
Sie hatte Caryn sympathisch gefunden. Sie hatten sich eine Ewigkeit über ihre Arbeit und ihr Reiseziel unterhalten. Dann hatte sie ihr Hayden vorgestellt, die knisternde Atmosphäre zwischen den beiden aufgeschnappt und schnell genug von Caryn gehabt.
Nicht, dass Caryn etwas dafür konnte. Sie war blond, schön und willig. Genau Haydens Typ, auch wenn sie Stiefel mit Metallkappen und Shorts trug und kein teures Seidenkleid.
Shirley seufzte. Und sie hatte ihn geholt und ihm die einzige Blondine auf dem Schiff als Geschenk überreicht. Was Caryn ihm zu verstehen gegeben hatte, war klar.
Besuch mich wieder.
Shirley setzte sich auf. Arbeiten. Sie hatte das nur gesagt, um Hayden loszuwerden, aber plötzlich schien es eine gute Ablenkung zu sein. Mit Caryn zu plaudern hatte sie auf eine Blog-Idee gebracht. Herausforderungen des internationalen Tierhandels. Zootiere, Rennpferde, Zuchtbullen. Wie viele andere außergewöhnliche Passagiere hockten genau in diesem Moment rund um die Welt in Kisten auf Schiffen, in Flugzeugen und Lastwagen?
Ein erster Entwurf der Story und Notizen für die Recherche waren in wenigen Minuten fertig. Shirley warf sich zurück und starrte wieder an die Decke. War dieses Schiff seit seiner Jungfernfahrt überhaupt nicht mehr gestrichen worden?
Sie hatte völlig das Gleichgewicht verloren, und dafür war Hayden verantwortlich. Sein hinreißender Kuss. Oben auf Deck hatte sie sich anstrengen müssen, nicht dauernd auf seinen Mund zu gucken.
Noch nie war sie einem so zynischen und unglücklichen Menschen wie Hayden begegnet. Dass er die Liebe für eine schwierige Aufgabe hielt, die man meisterte, anstatt für etwas, was einen einfach traf … Dass er sie bemitleidete, weil sie etwas anderes glaubte. Dass er für Großunternehmen Strategien entwickelte, wie sie die Menschen besser ausbeuten konnten.
Das war nicht der Junge, den sie, unter der Treppe versteckt, beobachtet hatte. Der Mann, der aus ihm geworden war, hatte zwar ein volles Bankkonto, aber leider keine Moral.
Und dennoch. Dieser Kuss …
Shirley zwang sich wieder hoch, zurück an den Laptop, zurück zum Entwurf der Story, um sich zu beweisen, dass sie es ernst meinte.
„Schluss jetzt!“, ermahnte sie sich selbst.
Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Konzentration. Sie war so in ihre Story vertieft gewesen, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte.
„Shirley? Ich bin’s, Hayden.“
Sie stand auf und öffnete die Tür. „Ja?“
„Kommst du nach oben zum Abendessen? Ich dachte, wir wollten uns dort treffen?“
Er war lässig, aber schick angezogen. Ein frisches Hemd und eine gut sitzende Hose. Er hatte geduscht und roch einfach himmlisch. Und er hatte sich sogar rasiert. Shirley fragte sich, was das zu bedeuten hatte. „Jetzt?“
„Es ist nach sieben.“
„Oh. Ich komme sofort.“ Shirley zog ihre Schuhe an und löste das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Wenn Caryn ihr Haar auf See offen tragen konnte …
Sobald sie draußen waren, peitschte ihr der Wind durch das Haar. Shirley hielt sich die tanzenden Strähnen mühsam aus dem Gesicht, bis sie die Außentür der Schiffsküche erreichten.
Als Shirley die Messe betrat, wandten sechs Leute den Kopf und sahen sie an. Fünf Crewmitglieder und eine Tierpflegerin.
Shirley pustete sich die Haare aus dem Gesicht und setzte ein Lächeln auf. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich war in meine Arbeit vertieft.“ Mit einem Blick erfasste sie die Sitzordnung. Auf jeder Tischseite war ein freier Platz, an dem neben Caryn stand eine halb ausgetrunkene Flasche. Haydens Platz.
Sie ging zu dem zweiten freien Platz zwischen zwei Besatzungsmitgliedern. Einem der Männer war sie noch nicht begegnet. Er war der Kapitän der Paxos und sprach sehr gut Englisch. Auch er war Grieche, schon älter und wettergegerbt, aber irgendwie … eindrucksvoll. Vielleicht lag es einfach an der Uniform.
Hayden ließ sich wieder auf seinen Stuhl neben Caryn sinken, die ihn sofort ins Gespräch zog.
Das Essen war unerwartet gut, die Atmosphäre am Tisch herzlich. Die Spannung zwischen Hayden und ihr war das Einzige, was es Shirley verdarb. Jedes Mal, wenn Kapitän Konstantinos dröhnend lachte, sah Hayden auf. Und er runzelte oft die Stirn über etwas, was einer der Seeleute zu den anderen auf Griechisch sagte. Shirley
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