Julia Festival 94
unvermeidlichen Vergeltung zu schützen. Was war bloß in ihn gefahren? Warum verließ ihn ausgerechnet jetzt sein viel gepriesener Verstand? Minos hatte zwar zugegeben, dass er Alexio brauchte, aber er würde ihn eher von seiner Insel jagen als eine solche Beleidigung hinnehmen.
„Du bildest dir wohl ein, dass sie bereits dir gehört, wie?“, keuchte er endlich, atemlos vor Wut.
„Ja.“ Alexio beherrschte sich, aber es war ihm anzusehen, dass er zu jeder Verteidigung bereit war.
Wieder gab es eine unheilvolle Pause, dann warf Minos den Kopf zurück und begann, unbändig zu lachen. In Iones Ohren klang es wie Höllengelächter. Diesmal würde sie nicht zusehen, wie jemand von Minos’ Leibwächtern zusammengeschlagen wurde. Sie würde die Polizei rufen und gegen ihren eigenen Vater aussagen.
Doch Sekunden später hatte sich Minos wieder gefasst. Mit einem halb anerkennenden Blick sagte er zu Alexio: „Du scheinst Ähnlichkeit mit mir zu haben. Was dir gehört, beschützt du und hältst es fest. Aber in Zukunft dulde ich keinen Widerspruch mehr.“
Die Männer setzten sich wieder hin. Alexio sah kurz zu Ione hinüber und fragte sich, ob er möglicherweise überreagiert hatte, denn sie schien ihm für sein Eingreifen nicht dankbar zu sein. Vermutlich gehörte eine erhobene Faust zu den minderen Bedrohungen, denen sie ausgesetzt war, und hatte nicht notwendigerweise eine Züchtigung zur Folge. Deshalb war sie still sitzen geblieben, während er einen tätlichen Angriff auf seine Braut befürchtete. Und schließlich … musste man einem Mann, der gegen eine tödliche Krankheit ankämpfte, nicht allerlei nachsehen?
„Ich fühle mich nicht wohl“, murmelte Ione undeutlich. „Bitte entschuldigt mich.“
„Ja, geh nur“, antwortete ihr Vater grimmig. „Du hast alles getan, um uns das Essen zu verderben.“
Ione stand schwankend auf und verließ das Esszimmer. Das Blut pochte in ihren Schläfen, und sie schien alle Energie verloren zu haben. Alexio würde nach der Hochzeit zu ihnen in die Villa ziehen. Warum auch nicht? Es war die ideale Lösung für ihn, denn er behielt seine Freiheit und konnte sie so oft und so lange allein lassen, wie er wollte. Würde es überhaupt noch zu einer Hochzeitsreise kommen? Alexio war gegen Paris gewesen, und ihr Vater würde ihn mühelos davon überzeugen, dass eine Hochzeitsreise reine Zeit- und Energieverschwendung sei.
Ione schlich sich mit tränenüberströmtem Gesicht in ihr Badezimmer und blickte starr in den Spiegel. Wie dumm und albern von ihr zu glauben, dass sie dem Einfluss ihres Vaters entrinnen würde. Er hatte alles im Voraus geplant, und sie war naiv genug gewesen, diese Möglichkeit gar nicht mit einzubeziehen.
Seit der Brief ihrer Zwillingsschwester kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag eingetroffen war, hatte man ihre Post abgefangen und kontrolliert. Misty hatte Kontakt zu ihr gesucht, und ihr Vater hatte sich furchtbar aufgeregt, weil die englischen Behörden ohne seine Einwilligung Einblick in die Adoptionsunterlagen gewährt hatten. Es war Ione verboten worden, den Brief zu beantworten, und sie wusste nur, dass Misty später die Geliebte eines sizilianischen Tycoons gewesen war, denn darüber hatten auch die griechischen Klatschblätter berichtet. Natürlich hatte sie die Berichte nicht selbst lesen dürfen. Ihr Vater hatte nur erklärt, dass die Schwester, nach der sie sich so sehne, ein Flittchen sei.
Er hatte versucht, damit in Ione Abscheu vor ihrer Schwester hervorzurufen, aber sie fühlte nur Mitleid und war von dem Wunsch beseelt, Misty zu helfen. Es fiel ihr zwar schwer, sich ein anderes Leben als ihr eigenes vorzustellen, aber Misty bestimmte weiter ihre Gedanken und war zum alleinigen Ziel ihrer Wünsche geworden.
Ja, so war es bis heute gewesen, und nun rückte dieses Ziel wieder in weite Ferne. Wohin sollte sie sich jetzt wenden? Müde und von den Ereignissen des Tages überreizt, ging Ione kurz unter die Dusche und dann ins Bett. Aber sie schlief unruhig und hatte quälende Träume. Erinnerungen aus der Vergangenheit mischten sich mit bösen Zukunftsahnungen und ließen sie auch im Schlaf keine Ruhe finden.
Sobald Minos in seinen Privaträumen verschwunden war, machte sich Alexio auf die Suche nach Ione. Er wunderte sich jetzt nicht mehr, dass sie ihm wortwörtlich angeboten hatte, „genauso zu sein, wie er es sich wünschte“. Sie hatte über zwanzig Jahre unter dem einschüchternden Einfluss ihres Vaters gestanden, und das hielt
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