JULIA FESTIVAL Band 76
vermutlich viel zu unschuldig war. Er hatte in Betracht gezogen, sie unter seinem Dach aufzunehmen, doch er hatte nicht beachtet, was und wer sie war. Er durfte sie nicht unter dem Vorwand, seinen Neffen zu betreuen, in sein Haus locken und verführen. Nun musste er sehen, wie er mit der Versuchung zurechtkam, die sie für ihn darstellte.
Selbst jetzt musste er immer wieder ihr hübsches Gesicht betrachten. Ihre großen grünen Augen unterschieden sich von den blauen Augen ihrer Mutter und Geschwister. Sie musste sie von ihrem Vater geerbt haben. Außerdem war sie ein ganzes Stück größer als ihre Mutter – sicher auch ein Vermächtnis ihres Vaters. Doch ihre Gesichtszüge und selbst ihr Lachen waren so wie bei ihrer Mutter.
Jonathan ermahnte sich, dass er kein Recht hätte, solche Gedanken über sie anzustellen. Cynthia war einige Jahre jünger als er und nicht so weltgewandt wie er. Wenn sie wirklich für ihn arbeiten sollte, musste er ihren Kuss vergessen und sich dagegen wehren, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Stattdessen musste er eine herzliche Arbeitsatmosphäre schaffen.
Ein leises Quengeln unterbrach ihn in seinen Gedanken. Er blickte zu Jenny, die ein kleines Bündel trug. Vor zwei Stunden hatte man ihm Colton gebracht, und auf Cynthias Vorschlag hin hatte man ihn bei den Morgans abgegeben. Colton sollte hier die nächsten Tage verbringen, bis Cynthia wieder gesund genug war, um bei Jonathan zu arbeiten.
„Nervös?“
Jonathan sah zu Cynthia und bemerkte, dass sie ihn beobachtet hatte. „Weshalb denn?“
Sie lächelte. „Sie können Colton nicht ansehen. Kleine Babys machen zukünftige Väter oft nervös, und bei einem frisch gebackenen Onkel ist das sicher nicht anders. Schließlich haben Sie Ihren Neffen noch nicht oft gesehen.“
Heute war das erste Mal, doch das behielt Jonathan wohlweislich für sich.
„Ich glaube, dass Colton in den Armen einer professionellen Kinderfrau besser aufgehoben ist“, sagte er und zwinkerte Jenny zu, die scheu zurücklächelte.
„Er ist ein so süßes Baby“, sagte der Teenager. „Ich helfe manchmal bei Cynthia aus, und Babys mag ich am liebsten.“
„Jenny ist ein Naturtalent“, bemerkte Cynthia.
Betsy kam mit einem Teller selbst gebackener Kekse herein. Die Kekse waren ganz frisch und dampften noch. Die Jungen sprangen auf und bestürmten ihre Mutter.
„Gäste zuerst“, wies sie die Jungen zurecht und hielt Jonathan die Platte hin. „Ich hoffe, Sie mögen Schokoladenkekse.“
„Wer mag die nicht?“, sagte er leichthin und nahm gleich zwei Stück.
Jonathan biss in den warmen Keks. Er war dankbar für die freundliche Geste, doch er fühlte sich noch immer fehl am Platz. Einerseits gefielen ihm die Atmosphäre, die von den abgenutzten Möbeln ausging, und die Art, wie die Kinder, die sich offensichtlich sehr mochten, miteinander umgingen. Hier in diesem kleinen Wohnzimmer mit den verstreuten Zeitschriften und ausgebreiteten Brettspielen war der Mittelpunkt des Hauses. Sein Haus war viel größer, aber auch viel lebloser. Andererseits war er immer noch davon überzeugt, dass Familien eine Erfindung des Teufels waren.
Betsy wischte sich die Hände an ihren Jeans ab und setzte sich zu Cynthia auf das Sofa. „Hat Cynthia Ihnen schon erzählt, dass sie nur dank Ihres Start-up-Kapitals ihre Firma gründen konnte?“
Jonathan schluckte unbehaglich. „Sie hat es gestern Abend erwähnt. Aber das ist wirklich nicht der Rede wert.“ Im Gegenteil, es war eine willkommene Abschreibung, die ihm beträchtliche Steuervorteile einbrachte. Aber das konnte er hier im Zimmer niemandem erklären.
„Wir finden schon, dass es der Rede wert ist“, beharrte Betsy.
„Glaubt ihr, dass er es weiß?“, fragte Jenny. Sie schaute auf das Baby und blinzelte heftig. „Colton. Ob er wohl weiß, dass seine Eltern nicht mehr da sind?“
Jonathan war überrascht, Tränen in ihren Augen zu sehen. Es schien wirklich, als ob ihr der Junge leid tat.
„Ich weiß noch, wie ich mich gefühlt habe, als Dad starb“, flüsterte sie.
Jonathan wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Bisher empfand er nicht einmal Trauer über den Tod seines Bruders. David hatte ihm oft das Leben schwer gemacht und sich nicht im Geringsten darum bemüht, ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen. Und er war so leichtsinnig mit seinem und dem Leben anderer umgegangen, dass er durch seine Raserei mit dem Auto tödlich verunglückt war.
Betsy stand auf und nahm den leeren Teller. „Ihr
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