JULIA FESTIVAL Band 97
nicht. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Eine leichte Brise wehte über die Terrasse, und Tess nahm den Duft von Raphaels Aftershave wahr. Dieser Duft war ihr allzu vertraut. Ich muss von hier weg, ehe ich mich zu einer Dummheit hinreißen lasse und mich ihm an den Hals werfe oder dergleichen, überlegte sie. Seine Mutter wäre bestimmt entsetzt.
„Tu es einfach“, forderte Raphael sie rau auf.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn viel zu lange angesehen hatte. Offenbar konnte er wirklich ihre Gedanken lesen. „Ach, geh zum Teufel“, sagte sie. Dann nahm sie ihr Glas und ging hinüber zu Ashley, die sich immer noch mit Marco unterhielt. Ashleys Miene nach zu urteilen, war es keine angenehme Unterhaltung.
Marco schien sich über die Unterbrechung zu freuen. Er fragte Tess, ob sie noch etwas trinken wolle.
„Nein, danke. Ich trinke nur selten Alkohol, höchstens einmal ein Glas Wein“, antwortete sie.
„Sie trinkt nur in männlicher Begleitung“, mischte Ashley sich gehässig ein. „Stimmt’s, Tess? Auch du verstößt ab und zu gegen deine eigenen Regeln.“
Tess errötete. „Wahrscheinlich“, gab sie zu. „Dies ist ein wunderschönes Fleckchen Erde, Marco. Hat die herrliche Umgebung Sie zum Malen inspiriert?“
„Oh, eigentlich nicht“, erwiderte er undeutlich.
„Marco hat eingesehen, dass er kein Talent zum Malen hat“, warf Ashley verächtlich ein. „Vielleicht hat ihn ja sein Vater zu dieser Einsicht gezwungen. Wer weiß das schon?“
„Wenn Marco Maler werden möchte, hat er meine uneingeschränkte Unterstützung“, ertönte Raphaels Stimme. Er stellte sich neben Tess und Ashley. „Lassen Sie uns ins Haus gehen. Antonio versucht schon seit zehn Minuten, mir zu verstehen zu geben, dass das Essen aufgetragen ist.“ Er ging vor ihnen her ins Esszimmer, das kleiner war, als Tess erwartet hatte.
An der Decke über dem Tisch hing ein riesiger Kronleuchter, der jedoch nicht eingeschaltet war. Stattdessen brannten Kerzen in silbernen Kerzenständern, die auf dem Tisch standen. Der war für sechs Personen gedeckt. Tess war erleichtert, dass Marco neben ihr saß. Ihnen gegenüber saßen der Conte und Ashley. Raphael und seine Mutter hatten jeweils am gegenüberliegenden Ende des Tisches Platz genommen. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre, und Tess hatte leichte Kopfschmerzen. Nur der Conte und Raphael schienen sich wohl zu fühlen.
Das Essen schmeckte köstlich. Nach mehreren Gängen mit den erlesensten Gerichten gab es Gebäck und Käse zum Dessert. Tess hatte keinen Appetit und aß nur wenig. Ihr war bewusst, dass Raphael und seine Mutter sie beobachteten. Ashley schien ihren Ärger im Alkohol zu ertränken, denn sie ließ sich immer wieder Rotwein nachschenken. Tess hoffte, ihre Schwester würde nicht zu viel trinken und unpassende oder provozierende Bemerkungen machen. Raphaels Verständnis für das Interesse seines Sohnes an der Malerei hatte Ashley offenbar aus dem Konzept gebracht.
Marco redete nicht viel. Er beantwortete die Fragen seiner Großmutter und wechselte einige Worte mit dem Conte. Wenn Ashley ein Gespräch mit ihm beginnen wollte, reagierte er seltsam zurückhaltend. Tess spürte, wie sehr ihre Schwester sich über seine Gleichgültigkeit ärgerte. Es sieht so aus, als würden wir das Essen beenden können, ohne dass etwas Dramatisches geschieht, dachte Tess.
Doch in dem Moment wandte Ashley sich an Raphael. „Sie halten sich wohl für sehr clever, oder?“
„Ashley!“, rief Tess bestürzt aus.
Lucia di Castelli war entsetzt, Raphael hingegen reagierte sehr gelassen. „Nein, überhaupt nicht“, antwortete er ruhig und stand auf. „Wenn Sie mit mir reden möchten, wäre es mir lieber, wir würden es unter vier Augen tun, um meine Gäste nicht in Verlegenheit zu bringen.“
„Mir ist klar, dass Ihnen das lieber wäre.“ Ashley blieb sitzen, und Marco warf seinem Vater einen besorgten Blick zu.
„Ich glaube, Ashley hat etwas zu viel Wein getrunken“, stellte Marco fest, und Tess bewunderte ihn wegen seines Mutes. „Möchtest du an die frische Luft gehen?“, fügte er an Ashley gewandt hinzu.
„Mit dir?“ Sie kniff die Augen vielsagend zusammen. Tess hatte so etwas befürchtet und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Ja, mit mir.“ Marco schob den Stuhl zurück und stand auf.
„Vielleicht möchte ich lieber mit deinem Vater nach draußen gehen.“ Ashley blickte Raphael an. „Was halten Sie davon,
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