JULIA GOLD Band 32
von seinem Sitz und ging durch die Kabine. Er trat an einen kleinen Tisch und nahm eine getrocknete Frucht von einem Silbertablett. „Du hast einen schrecklichen Fehler gemacht“, sagte er und setzte nach einer Pause hinzu: „So ruhig, Prinzessin al-Assad? Den ganzen Abend hast du gezetert, und jetzt schweigst du?“
Sie konnte den Blick nicht von der Aprikose in seinen Fingern wenden. Er drückte sie, presste sie zwischen den Fingern platt, als wollte er sie zerquetschen, sie zwingen, sich ihm zu unterwerfen. Nur mit Mühe schaffte sie es, den Blick von der Frucht zu seinem Gesicht zu heben. „Es tut mir leid.“
Er steckte die Aprikose in den Mund, kaute langsam und schluckte sie schließlich hinunter. „Es tut dir nur leid, dass ich dein Geheimnis herausgefunden habe.“
Sie überlegte, ob er recht hatte. War das der einzige Grund, warum sie dieses überwältigende Bedauern empfand?
Wieder dachte sie an ihre Eltern, deren Liebe zueinander und zur Arbeit nur wenig Raum für die Tochter ließ. Hatte sie Kahlil den Sohn aus reinem Egoismus vorenthalten? Hatte sie Ben verschwiegen, um jemanden für sich allein zu haben, den sie lieben konnte?
Ein solcher Egoismus hätte Ben aber nur geschadet. „Nein. Das stimmt nicht“, antwortete sie schließlich. „Alles, was ich getan habe, geschah nur, um Ben zu schützen.“
„Glaubst du, ich würde meinem Sohn wehtun?“ Kahlils Stimme war eiskalt. „Denkst du wirklich, dass ich so ein Mann bin?“
Nein, aber er war blind, zumindest, was seinen Cousin betraf. Kahlil favorisierte Amin. Hatte es immer getan, würde es immer tun.
Amin könnte Ben schaden. Wenn Amin sie attackierte, warum sollte er dann vor Ben haltmachen?
„Dein Schweigen spricht Bände“, meinte Kahlil.
„Ich habe nur an Ben gedacht“, erwiderte sie sanft und zog den Jungen fester an sich. „Alles wird anders für ihn.“
„So wie es sein soll.“
„Er wird Angst haben.“
„Es wird ihm gut gehen. Er hat jetzt mich.“
Kahlil würde ihr doch den Jungen nicht wegnehmen, oder? Das würde er ihr – oder Ben – doch nicht antun?
Sie geriet in Panik bei dem Gedanken und hielt den Atem an. Die Tränen brannten in ihren Augen. „Ich tue alles, was du willst, aber sei gut zu ihm. Er ist noch so klein …“
„Das sehe ich selbst. Ich sehe auch, wie sehr er dich liebt. Niemals würde ich ihm wehtun, Bryn. Ich werde doch meinem eigenen Fleisch und Blut nicht wehtun.“
Sie beugte den Kopf. „Fliegen wir nach Zwar?“
„In sechs Stunden werden wir in Tiva landen.“
Und Amin? War er dort? Würde er warten? „Deine Familie – weiß sie, dass ich komme?“
„Mein Vater ist tot“, erwiderte Kahlil kurz angebunden.
„Er ist vor fast zwei Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid. Ich wusste es nicht.“
„Liest du keine Zeitung?“
Sie war allem aus dem Weg gegangen, was mit Zwar zusammenhing oder an ihr altes Leben mit Kahlil erinnerte. „Tut mir leid“, erwiderte sie hilflos.
„Meine Cousine Mala, die etwa so alt ist wie du, ist jetzt in London an der Universität. Sie wird also nicht da sein.“
„Und Amin?“
Kahlil warf ihr einen scharfen Blick zu. „Er lebt in Europa. Zieht das Nachtleben von Monte Carlo dem in Tiva vor.“
Erleichtert atmete sie auf. Das war die beste Nachricht, die sie seit Tagen gehört hatte.
Kahlil schenkte sich einen Drink ein. „Möchtest du auch etwas?“, fragte er und hielt die Karaffe mit dem Likör hoch.
„Nein. Danke.“
Die goldene Flüssigkeit schimmerte in dem Cognacschwenker. „Erzähl mir von meinem Sohn.“
Richtig. Ben war ein Fremder für Kahlil. Einen Moment lang hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm seinen Sohn vorenthalten hatte. Doch hatte sie eine andere Wahl gehabt?
„Ich möchte gern alles über ihn wissen“, fügte Kahlil sanft hinzu.
„Ben ist für sein Alter manchmal etwas altklug“, begann sie vorsichtig. „Er ist intelligent, sehr sanftmütig und lieb. Er hat nichts Gemeines an sich.“
„Womit spielt er gern?“
„Autos, Eisenbahn. Außerdem liebt er Ballspiele.“
„Was hat er sich zu Weihnachten gewünscht?“
Bryn hatte plötzlich einen Frosch im Hals. Diese Frage konnte sie nicht beantworten. Nicht, weil sie sich nicht an seinen Wunsch erinnerte, sondern weil die Erinnerung daran unangenehm war.
Nie in ihrem Leben würde sie vergessen, wie Ben im Kaufhaus auf dem Schoß des Weihnachtsmannes gesessen hatte und um einen Daddy bat. Nicht ein neues Auto oder ein Spiel oder ein
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