Julia Liebeskrimi Band 09
die Einheimischen erzählten. Sie besagte, dass in lange zurückliegender Zeit ein Anasazi-Krieger eine Frau von einem anderen Stamm entführt und sie in einem Steinturm in seinem Dorf gefangen gehalten hatte. Die Frau hatte um ihren verlorenen Liebsten geweint und war in den Tod gesprungen, weil sie sich dem Mann, der sie entführt hatte, nicht unterwerfen wollte.
Als sie nach Chalo Canyon gezogen waren, wo ihr Vater eine Stelle als Fisch- und Jagdaufseher in dem Naturschutzgebiet bekommen hatte, von dem der Stausee hinter dem Damm umgeben war, hatte Sydney, ein Kind damals noch, diese Legende zum ersten Mal gehört. Ihr Dad hatte sich über das Märchen lustig gemacht, aber die Fantasie seiner Tochter hatte es nicht losgelassen. Es hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie die Jahre zählte, bis sie endlich die Ruinen für ein Spezialprojekt ihrer Filmklasse auf einem Videofilm festhalten konnte.
Seufzend stützte Sydney das Kinn auf die Knie. Wie jung sie damals gewesen war. Wie unglaublich naiv. Eine neunzehnjährige Studentin, die diesem Filmprojekt ihre gesamte Collegezeit hindurch entgegengefiebert hatte. Sie hatte den Sommer und die geplante Trockenlegung des Auffangbeckens gar nicht erwarten können. Pop war an diesem Tag auch bei ihr gewesen, er hatte das Boot gesteuert und im Gleichgewicht gehalten, während sie, die Videokamera auf der Schulter, herumgeturnt war, um das aus dem Wasser auftauchende Dorf aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel zu filmen. Sydney war so in Hochstimmung gewesen, so fest überzeugt, dass dieses Projekt der Beginn einer großen Karriere sein würde.
Und dann hatte sie sich Hals über Kopf in den gut aussehenden, charmanten Jamie Chavez verliebt.
Selbst nach all diesen Jahren wand Sydney sich bei dem Gedanken daran innerlich immer noch vor Beschämung. Ihre atemlose Inbrunst hatte den älteren, lebenserfahreneren Jamie amüsiert und erfreut … sehr zum Leidwesen seines Vaters. Die Tochter des örtlichen Fisch- und Jagdaufsehers passte nicht in den Lebensentwurf, den Sebastian Chavez für seinen einzigen Sohn entworfen hatte.
Im Nachhinein konnte Sydney über ihre unglaubliche Naivität nur den Kopf schütteln. Jamie hatte sich lediglich mit ihr amüsieren wollen, während seine Verlobte in Europa war. Selbst heute noch würde sie bei dem Gedanken an die Nacht, als Sebastian sie im Bett seines Sohnes erwischt hatte, am liebsten im Erdboden versinken. Es war keine schöne Szene gewesen. Schlimmer noch, die Geschichte hatte ihren Vater die Stellung gekostet. Eine Woche später waren sie weggezogen, und keiner von ihnen war jemals wieder nach Chalo Canyon zurückgekehrt.
Bis jetzt.
In wenigen Stunden würde Sydney die Ruinen zum dritten Mal aus der Versenkung auftauchen sehen, und diesmal würde sie, die inzwischen eine mit Preisen überhäufte Dokumentarfilmerin war, einen ergreifenden Film daraus machen. Die Vorarbeiten dafür hatten sie fast ein Jahr Arbeit gekostet, und das Endprodukt würde sie dem Mann widmen, der ihr die Schönheiten und Geheimnisse des Chalo Canyons gezeigt hatte.
Zu hoffen stand, dass der Film ihre Produktionsfirma aus den roten Zahlen herausbringen würde. Die lange Krankheit ihres Vaters hatte sowohl Sydneys Herz als auch ihr Bankkonto arg gebeutelt. Selbst der warme Geldregen, der mit den Oscars einhergegangen war, hatte zusammen mit ihren Ersparnissen nicht ausgereicht, um die Unkosten aufzufangen, die ihr bei der Gründung ihrer eigenen Produktionsfirma entstanden waren. Dieses Projekt jetzt würde sie entweder sanieren oder vollständig ruinieren.
Sie schlug nach einer lästigen Schnake an ihrem linken Ohr, während sie an all die Hindernisse dachte, die sie hatte überwinden müssen, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt war. Mit den Vorbereitungsarbeiten zu dem Film hatte sie angefangen, als die Leukämie ihren Vater ans Bett gefesselt hatte. Dort hatte sie dann stundenlang gesessen und jeden einzelnen Schritt mit ihm durchgesprochen. Das Konzept, das Treatment, so wie sie es sich vorstellte. Sie hatte einen Finanzierungsplan ausgearbeitet. Dann hatte sie ihre Idee dem HISTORY Channel, PBS und einem halben Dutzend freier Produzenten unterbreitet.
Pops Tod hatte Sydney in ihrem Entschluss noch bestärkt … obwohl Sebastian Chavez sich derart auf die Hinterbeine gestellt hatte. Nachdem er von dem geplanten Projekt erfahren hatte, war ihm jedes Mittel recht gewesen, um es zu Fall zu bringen. Er hatte ihr den Zugang zum Drehort durch sein Land
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