Julia Quinn
ich gesunken bin? Auf
keinen Fall.«
Elizabeth seufzte. Sie konnte sich
nur zu gut in ihn hineinversetzen. Sie kannte dieses Getuschel im Dorf, die
auf sie gerichteten Zeigefinger. Jeden Sonntag ging sie mit ihrer kleinen
Familie in die Kirche, und jeden Sonntag saß sie kerzengerade in der
Kirchenbank und versuchte den Anschein zu erwecken, als wolle sie ihre
Geschwister in altmodische oder verschlissene Kleidung stecken. »Wir beide
haben viel gemeinsam«, sagte sie sanft.
In seinem Blick flackerte so etwas
auf wie Schmerz oder vielleicht auch Scham. In dem Moment wurde Elizabeth klar,
dass sie gehen musste, denn eigentlich wollte sie nur noch eins – ihn in den
Arm nehmen und ihn trösten, als könnte eine kleine, zarte Frau wie sie einen so
großen, starken Mann vor den Widrigkeiten des Lebens schützen.
Das war natürlich absurd. Er
brauchte sie nicht. Und sie durfte ihn nicht brauchen. Gefühle waren ein Luxus,
den sie sich zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben nicht leisten konnte.
»Ich gehe jetzt«, teilte sie
ihm hastig mit und war entsetzt, wie rau ihre Stimme klang. Sie eilte an ihm
vorbei und zuckte zusammen, als sie mit der Schulter seinen Arm streifte. Für
den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, er würde sie zurückhalten. Sie spürte,
wie er zögerte, wie er sich bewegte, doch schließlich fragte er nur: »Sehen wir
uns Montag?«
Sie nickte und verließ das Haus.
Einige Minuten lang starrte James reglos
auf die Tür, durch die sie verschwunden war. Elizabeths Duft hing noch immer in der Luft, ein unschuldiger
Duft nach Erdbeeren und Seife, aber er genügte, um in ihm die Sehnsucht zu
wecken, sie im Arm halten zu dürfen.
Im Arm halten ... Wem versuchte er
eigentlich etwas vorzumachen? Er wollte sie ganz, mit Haut und Haar, unter
sich, neben sich, um sich herum. Er wollte sie. So einfach war das. Was sollte
er bloß tun?
Er hatte bereits veranlasst, dass
ihrer Familie ein Wechsel ausgestellt wurde; anonym, natürlich, sonst hätte
Elizabeth ihn niemals angenommen. Das sollte wohl ihrem unsinnigen Vorhaben
ein Ende machen, den erstbesten vermögenden Mann zu heiraten.
Aber sein eigenes Dilemma war damit
noch nicht beseitigt. Als seine Tante ihn früher am Nachmittag aufgesucht und
ihm mitgeteilt hatte, dass Elizabeth zusammen mit Dunford fortgegangen sei, da
hatte er eine Eifersucht verspürt, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Sie hatte ihm förmlich das Herz abgeschnürt und nur noch Platz für einen
einzigen Gedanken in seinem Kopf gelassen – er musste Dunford aus Surrey
verschwinden und direkt nach London zurückkehren lassen. Nach London! Wenn er
die Möglichkeit gehabt hätte, hätte er ihn am liebsten bis nach Konstantinopel
geschickt!
Er hatte es aufgegeben, sich
einzureden, dass sie einfach nur eine Frau von vielen war. Die Vorstellung,
dass ein anderer Mann sie im Arm halten könnte, machte ihn buchstäblich
krank, und er wusste, sehr viel länger konnte er diese Scharade mit der Suche
nach einem Ehemann für sie nicht mehr durchhalten. Nicht, wenn sie bei jeder
Begegnung in ihm das brennende Verlangen auslöste, sie an sich zu reißen und
zu lieben.
James stöhnte resigniert auf. Von
Tag zu Tag wurde ihm klarer, dass er sie heiraten musste. Nur so würden sein
Körper und seine Seele endlich Frieden finden. Doch ehe er sie heiraten
konnte, musste er ihr seine wahre Identität enthüllen, und das wiederum
konnte er nicht tun, ehe er nicht die Erpressung aufgedeckt hatte. So viel
schuldete er seiner Tante. Sicher konnte er seine eigenen Bedürfnisse noch für
zwei kurze Wochen hintanstellen.
Aber wenn er es nicht schaffte, den
Fall in zwei Wochen zu lösen, dann war er ratlos. Er bezweifelte, diesen
jetzigen Zustand noch länger als vierzehn
Tage ertragen zu können. Er stieß einen Fluch aus und verließ das Haus. Er
brauchte unbedingt frische Luft.
Elizabeth versuchte, nicht an James zu
denken, als sie sein gemütliches kleines Haus hinter sich ließ. Das gelang ihr
natürlich nicht, aber wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, ihm
an diesem Tag noch einmal über den Weg zu laufen. Er saß jetzt in seinem
Wohnzimmer und lachte wahrscheinlich darüber, wie fluchtartig sie die Szene
verlassen hatte.
Nein. Er lachte nicht über sie, das
wusste sie. Alles wäre viel einfacher gewesen, wenn er es getan hätte. Dann
hätte sie ihn hassen können.
Und als ob nicht alles schon schlimm
genug gewesen wäre, hatte Malcolm offensichtlich beschlossen, dass es
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