JULIA SOMMERLIEBE Band 20
aussehenden Mann wie ihm umworben zu werden, war unglaublich aufregend.
Seb stellte einen Teller und ein Glas mit gekühltem Mineralwasser vor ihr auf den Tresen, legte Besteck dazu und schenkte Gina ein atemberaubendes Lächeln.
„Danke, das sieht einfach köstlich aus“, sagte sie, als er ihren Teller mit einer großen Portion Pasta und aromatisch duftender Soße füllte. Anschließend streute er frisch geriebenen Parmesan darauf.
„Erzähl mir von deiner neuen Stelle“, bat Seb und nahm ihr gegenüber Platz.
„Die Kreisverwaltung und die örtliche Gesundheitsbehörde haben kürzlich mithilfe von Spendengeldern das neue Zentrum eröffnet, von dem ich dir ja schon erzählt habe.“ Gina lächelte. „Sie wollen die unterschiedlichsten Dienste im Bereich Gesundheit und Soziales anbieten und entsprechende Beratung, Unterstützung und Informationen unter einem Dach vereinen – insbesondere für benachteiligte Menschen und solche, die mit den regulären gesundheitlichen Einrichtungen nicht so gut zurechtkommen.“
„Wer hat denn Schwierigkeiten, sich vom Krankenhaus oder ansässigen Ärzten betreuen und behandeln zu lassen, und warum?“
„Du wärst überrascht, wie viele Menschen deren Dienste nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. Das hat die unterschiedlichsten Gründe: Angst, Misstrauen oder mangelnde Informationen zum Beispiel. Das Zentrum ist auf die Bedürfnisse von Obdachlosen, Migranten, Flüchtlingen, Menschen mit Alkohol- und Drogenproblemen sowie AIDS-Kranken und HIV-Positiven ausgerichtet.“
Seb stellte weitere Fragen. Ermutigt von seinem Interesse, erzählte Gina von den vielfältigen Beratungsangeboten. Außerdem konnten Obdachlose in dem Zentrum vorübergehend eine Unterkunft finden, und auch bei nichtmedizinischen Problemen erhielten die Menschen Hilfe und Unterstützung.
„Das klingt wirklich toll“, meinte Seb bewundernd.
„Ja, es ist wirklich ein lohnendes Projekt“, stimmte Gina ihm zu und bemerkte, dass er sie eindringlich ansah. „Ich möchte mit meiner Arbeit gern etwas bewegen, auch wenn ich nur einen kleinen Beitrag leisten kann.“
„Ich finde, du tust etwas sehr Wichtiges.“
„Danke.“ Gina wunderte sich ein wenig darüber, wie angespannt Seb einen Moment lang geklungen und wie traurig er gewirkt hatte.
Als er nach den Mitarbeitern des Zentrums fragte, erklärte sie: „Das Stammpersonal besteht aus Dr. Thornton Gallagher, dem medizinischen Leiter des Zentrums, einer Psychologin, einem Sozialarbeiter, mir und zwei weiteren Krankenschwestern. Derzeit haben wir nicht genug Mittel, um einen Allgemeinmediziner oder einen Zahnarzt in Vollzeit zu beschäftigen. Darum sind wir auf die unentgeltlichen Dienste zahlreicher Ärzte und anderer Experten aus dem Krankenhaus und aus Zahnarztpraxen in der Umgebung angewiesen. Alle haben sich mit vereinten Kräften für das Projekt eingesetzt und arbeiten ehrenamtlich für uns.“ Sie seufzte glücklich. „Wir hoffen, dass sich das Zentrum erfolgreich entwickelt, damit wir bald genug Mittel haben, um ein Team von Medizinern einzustellen.“
Während Gina so begeistert von dem Gesundheitszentrum erzählte, musste Seb wieder einmal daran denken, dass ihn seine Arbeit in den letzten Jahren ganz und gar nicht glücklich gemacht hatte – einmal abgesehen von einigen Patienten, die er unentgeltlich behandelt hatte. Er liebte die Arbeit als Chirurg, aber Schönheitsoperationen waren nichts Erfüllendes. Das stand im krassen Gegensatz zu dem Gefühl, einem Menschen wirklich geholfen zu haben. Seb schämte sich und hatte fast das Gefühl, sein Schicksal verdient zu haben. Schließlich hatte er sein Talent geradezu verschwendet.
Die Narben bildeten sich immer mehr zurück, und das tägliche Üben trug zur Heilung bei. Allerdings verspürte er noch immer ein unangenehmes Gefühl und oft auch Taubheit in der Hand. Die seelischen Verletzungen, die der Verlust seiner Karriere als Chirurg verursacht hatte, waren viel schwerer zu heilen. Was sollte er nur in Zukunft tun? Würde er weiterhin als Mediziner arbeiten? Was konnte er überhaupt tun? Er hatte Florenz verlassen, um weit weg von neugierigen Reportern und dem zwar verständlichen, aber etwas erdrückenden Mitgefühl seiner Verwandten Antworten auf diese Fragen zu finden und Entscheidungen treffen zu können.
Vielleicht war doch nicht alles so aussichtslos, wie er befürchtete. Er würde zwar nie wieder operieren, und das tat weh. Denn Seb hatte lange sehr hart gearbeitet, um
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