JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
Yorkshire, ließ sich von ihren Eltern verwöhnen, unternahm Ausflüge mit ihrem älteren Bruder und fühlte sich schließlich stark genug, nach Melbury zurückzukehren.
Zurück auf der Station, wurde sie sofort mit Arbeit überhäuft, sodass ihr keine Zeit zum Grübeln blieb. Zwar war die Welle der Bronchitis-Erkrankungen abgeebbt, dennoch gab es genügend Neuzugänge. Ein kleines Mädchen wartete auf eine Transplantation, bei zwei Kindern mit Knochenbrüchen vermuteten die Ärzte Misshandlungen, ein Junge war beim Spielen in einen Stacheldraht geraten und litt an einer Blutvergiftung. Und in allen Fällen erwarteten Eltern oder andere Sorgeberechtigte, dass sie sich ausreichend Zeit nahm für Gespräche und Erklärungen.
Früher hatte Jodie oft geklagt, dass sie sich nach der Schicht ausgelaugt und erschöpft fühlte. Jetzt war sie dankbar dafür. Nach einem Tag im Krankenhaus hatte sie nicht mehr genügend Energie, um an Sam zu denken, der noch immer nicht zurückgekehrt war. Wenn sie abends nach Hause kam, fiel sie todmüde ins Bett und schlief sofort ein.
Bis zu jenem Tag, an dem Sarah Ellis eingeliefert wurde. An diesem Tag war auch Sam zurück in der Klinik.
„Hallo, Jodie.“
Sie stand am Bett der neuen Patientin und hätte fast ihre Unterlagen fallen gelassen, als sie seine Stimme hörte. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und ihn angebrüllt, ob er glaube, dass sie ihn so ohne Weiteres höflich begrüßen würde, nachdem er einfach gegangen war ohne ein einziges Wort der Entschuldigung. Doch mit äußerster Selbstbeherrschung schaffte sie es, ruhig zu bleiben.
„Sam“, erwiderte sie kühl und wich seinem Blick aus. Sie konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen.
„Jodie, ich – wir müssen reden.“
„Nicht jetzt. Ich bin beschäftigt.“
„Gut. Ich warte nach dem Dienst auf dich.“
Sie schüttelte den Kopf und studierte weiterhin von ihm abgewandt die Krankenakte. „Ich glaube nicht, dass ich mit dir reden möchte.“
„Jodie …“
„‚Es wird vorübergehen.‘ Waren das nicht deine Worte?“ Die blanke Bitterkeit in ihrer Stimme schockierte sogar sie selbst.
Sam sah sie nur an. Lange.
Schließlich drehte sie sich zu ihm um und hoffte, dass er nicht sah, wie sehr sie mit den Tränen kämpfte. „Wir sind Kollegen, Sam. Nur Kollegen. Es ist aus und vorbei.“
Es war ein Fehler gewesen, ihn anzusehen. Sie blickte in seine trüben grauen Augen und sah die sorgenvollen Linien, die sich in sein Gesicht eingegraben hatten. Sam sah aus, als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Wo auch immer er gewesen war, was er auch getan haben mochte, die Zeit der Trennung hatte ihm genauso zugesetzt wie ihr.
Wie gern hätte sie die Hand nach ihm ausgestreckt und seine Wange gestreichelt. Doch sie wusste, dass der Frieden trügerisch sein würde. Irgendwann würde er sie wieder verlassen, weil er ihrer Liebe nicht traute. Und sie könnte es nicht ertragen, noch einmal so sehr verletzt zu werden.
„Du siehst besorgt aus. Probleme mit einem Patienten?“
Gut. Er schwenkte auf ihren Kurs um. Nur Kollegen. Kein Schmerz, keine schlaflosen Nächte.
Jodie reichte ihm die Akten.
Er überflog sie, dann pfiff er durch die Zähne. „Sanfilippo-Syndrom.“ Sam sah von dem schlafenden Mädchen zu Jodie. „Das ist äußerst selten. Ich schätze, es ist die erste Patientin mit dieser Krankheit für dich?“
Jodie nickte.
„Ist dir in der Ausbildung schon mal ein Fall begegnet?“
„Nein. Ich habe bisher nur darüber gelesen.“
„Und?“
Sam wollte überprüfen, was sie über diese seltene Krankheit wusste. Gut, dieser Herausforderung konnte sie sich stellen. Es würde ihr helfen, das Gespräch auf professioneller Ebene zu halten, Abstand zu wahren und nicht in seine Arme zu stürzen.
„Das Sanfilippo-Syndrom ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung. Meistens wird sie im dritten oder vierten Lebensjahr festgestellt. Zunächst bleiben die Kinder in der geistigen Entwicklung zurück und neigen zur Hyperaktivität. Als junge Erwachsene kommen spastische Lähmungen hinzu. Die Patienten werden selten älter als dreißig Jahre.“
Auffordernd nickte Sam ihr zu.
Jodie fuhr fort: „Bisher gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten, um die Krankheit zu stoppen. Sarahs Eltern fiel auf, dass sie Entwicklungsverzögerungen aufwies, gleichzeitig schien sie fast gar keinen Schlaf zu brauchen. Mit fünf Jahren war sie noch nicht trocken, und dann verringerte sich ihr Wortschatz. Der Kinderarzt hat sie zu uns
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