JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
überwiesen, und nach den Blut- und Urintests stand fest, dass es sich um Sanfilippo handelt.“
„Ich hatte einen Sanfilippo-Patienten in London“, erzählte Sam. „Er musste irgendwann in ein Pflegeheim, weil er immer unselbstständiger wurde und schließlich nicht mehr laufen konnte.“ Er warf einen Blick auf Sarah. „Arme Kleine. Es wird eine harte Zeit für sie und ihre Eltern. Während alle Kinder um sie herum Fortschritte machen, wird sie sich zurückentwickeln. Ein grausames Schicksal.“
„Sarah ist nur diese eine Nacht hier. Um ehrlich zu sein, hätte sie gar nicht stationär aufgenommen werden müssen“, räumte Jodie ein. „Aber es war ein Bett frei, und ich wollte den Eltern die Möglichkeit geben, sich nach dieser Diagnose erst mal zu fassen. Außerdem dachte ich, sie könnten etwas Schlaf gebrauchen.“
„Seit wann schläft Sarah schon?“, wollte Sam wissen.
„Ungefähr eine Stunde. Gib ihr noch ein bisschen Zeit, und du wirst sehen, welch ein Wirbelwind sie ist.“ Jodie lächelte traurig. „Ich habe für Sarahs Eltern einen Termin bei einem Spezialisten vereinbart.“
„Gute Idee.“
„Ich finde es entsetzlich, dass wir nichts tun können.“ Jodie hatte den Satz ausgesprochen, ehe sie darüber nachgedacht hatte. Als ihr auffiel, dass dies ebenfalls für ihre Beziehung galt, errötete sie.
„Wir sind Ärzte, aber wir sind nicht allmächtig“, entgegnete Sam sanft. Sein Tonfall war der Gleiche wie damals, als er ihr gesagt hatte, dass er sie liebte, dachte Jodie. Doch sie schob diesen Gedanken abrupt zur Seite.
„Jedes Mal, wenn ich einen Fall von Leukämie habe, zum Beispiel“, fuhr er fort, „und in die hoffnungsvollen, fröhlichen Augen eines Kindes sehe, das wahrscheinlich sterben wird, frage ich mich, warum ich Arzt geworden bin. Und warum es bei so vielen Krankheiten noch immer keine Therapie gibt, die Heilung garantiert. Doch selbst wenn jemand ein neues Medikament entwickeln würde, käme es für genau diesen kleinen Patienten wahrscheinlich zu spät. Ich hasse diesen Teil unseres Berufs genauso wie du. Aber wir können nicht mehr tun, als unser Bestes zu geben.“
„Du hast recht.“ Jodie dachte an ihre kleine Schwester Sadie, die nur ein paar Tage gelebt hatte. „Wenn Sadie heute geboren würde, hätte sie eine gute Chance, geheilt zu werden, weil die Medizin solche Fortschritte gemacht hat.“
Spontan ergriff Sam ihre Hand und drückte sie.
Nach einem kurzen Zögern zog Jodie ihre Hand etwas zu grob fort.
„Entschuldige. Ich hätte nicht …“, Sam seufzte. „Du solltest eine Kaffeepause machen, du kannst sie gebrauchen.“
Sie zwang sich zu einem sachlichen Tonfall. „Ja, Chef.“
Jodie ging in die kleine Küche am Ende des Flurs und stellte die Kaffeemaschine an. Sie wusste, dass er recht hatte – sie brauchte ein paar Minuten, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Krankheit ihrer kleinen Patientin hatte sie schon aus der Bahn geworfen, doch Sams unvermutetes Auftauchen hatte ihre Gefühle vollends durcheinandergebracht. Er hatte gesagt, sie müssten reden. Doch der Zeitpunkt für ein klärendes Gespräch war längst verstrichen.
Sam saß auf der Bettkante der kleinen Patientin und starrte in die Krankenakte, ohne auch nur ein Wort daraus wahrzunehmen. Vielleicht wäre er besser gleich ganz in Cornwall geblieben. Denn ihm war klar geworden, dass Jodie ihm keine Chance geben würde, ihr zu erklären, warum er verschwunden war.
Er konnte ihr keine Vorwürfe machen. Für sie sah es so aus, als habe er sie verlassen, nachdem er ihr versprochen hatte, schnell zurückzukommen – und er hatte in den zehn Tagen seiner Abwesenheit nicht einmal mit ihr gesprochen. Natürlich könnte er versuchen, ihr zu erklären, wie oft er sich bemüht hatte, sie zu erreichen. Doch sie hatte ihr Urteil längst gefällt und ihn aus ihrem Leben verbannt.
Und doch war er sicher, etwas in ihren Augen erkannt zu haben, als sie ihn angesehen hatte. Die Worte seiner Mutter klangen in seiner Erinnerung: Sag ihr, dass du sie liebst … folge deinem Herzen.
Und wenn sie nicht mit ihm reden wollte – nun, dann musste er andere Wege finden.
„Für mich?“ Jodie sah den Boten erstaunt an. Wer um alles in der Welt sollte ihr Blumen schicken? Es war noch nicht einmal ihr Geburtstag.
Als der Kurier des Blumengeschäftes ihr den Namen des Auftraggebers nannte, wurden ihre Lippen schmal. Wer sonst? „Vielen Dank, aber ich kann den Strauß nicht
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