Julie oder Die neue Heloise
eingestandenen Fehler in Anspruch nimmt. Wenn die Franzosen keine Tugenden besäßen, so würde ich Nichts sagen; wenn sie keine Laster hätten, würden sie keine Menschen sein; sie haben zu viele lobenswerthe Seiten, um immer gelobt zu werden.
Was die Versuche betrifft, von denen du sprichst, so sind sie für mich nicht thunlich, weil ich sie nicht machen könnte, ohne Mittel in Bewegung zu setzen, die mir nicht anstehen und die du selbst mir untersagt hast. Republikanische Sittenstrenge ist nicht wohl angebracht hier zu Lande; es bedarf da biesamerer tugenden, die sich besser den Interessen der guten Freunde oder Gönner anzuschmiegen wissen. Man schätzt hier die Fähigkeit, ich gebe es zu, aber die Gaben, welche zu gutem Rufe führen, sind hier nicht dieselben, mit denen man sein Glück macht, und wenn ich das Unglück hätte, diese letzteren zu besitzen, würde sich Julie wohl entschließen, die Frau eines Emporkömmlings zu werden? In England ist es eine ganz andere Sache, und wenn auch die Sitten dort vielleicht noch weniger taugen als in Frankreich, so verhindert das nicht, daß man auf ehrenhafteren Wegen emporkommen kann, weil wegen der größeren Betheiligung des Volkes an der Regierung die öffentliche Achtung daselbst mehr das Mittel ist, zu Ansehen zu gelangen. Es ist dir nicht unbekannt, daß es Milord Eduard's Absicht ist, diesen Weg zu meinen Gunsten zu benutzen, und meine seinen feundschaftlichen Eifer zu rechtfertigen. Der Ort auf erden, wo ich am entferntesten von dir bin, ist derjenige, wo ich nichts thun kann, was mich dir näher brächte. O Julie, wenn es schwer ist, deine Hand zu wehalten, noch schwerer ist es, sie zu verdienen. Und das ist die edle Aufgabe, welche mir die Liebe stellt.
Du reisest mich aus einer großen Sorge, indem du mir bessere Nachrichten von deiner Mutter giebst; ich sah dich schon vor meinerAbreise so unruhig ihretwegen, daß ich nicht wagte, dir zu sagen, was ich von ihrem Zustande dächte, aber ich fand sie abgezehrt, verändert und fürchtete eine gefährliche Krankheit. Erhalte sie mir, weil sie mir theuer ist, weil ich sie von Herzen ehre, weil auf ihre Güte meine einzige Hoffnung gebaut ist und vorzüglich, weil sie die Mutter meiner Julie ist.
Ueber die beiden Bräutigame will ich dir sagen, daß mir dies Wort unangenehm ist, selbst im Spaße; übrigens verscheucht mir der Ton, in welchem du von ihnen sprichst, jede Furcht und ich hasse die Armen nun nicht mehr, da du sie zu hassen glaubst. Aber ich bewundere deine Unschuld, daß du von Haß zu wissen meinst; siehst du denn nicht, daß es nur die erzürnte Liebe ist, was du für Haß hältst? So murrt das weiße Täubchen, dessen Geliebten man verfolgt. Geh, Julie, geh, unvergleichliches Mädchen; wenn du wirst hassen können, werde ich aufhören können, dich zu lieben.
N. S. Wie bedauere ich dich, daß du von diesen beiden Ueberlästigen belagert bist. Um der Liebe deinerselbst willen, mach' und schicke sie eilends fort.
Zwanzigster Brief.
Von Julie.
Mein Freund! ich habe Herrn von Orbe ein Päckchen zugestellt, welches er sich anheischig machte, dir unter Adresse des Herrn Silvestre zu schicken, wo du es also abholen kannst; aber ich mache dich darauf aufmerksam, daß du es erst öffnest, wenn du allein und auf deinem Zimmer bist; du wirst etwas zum Gebrauche für dich darin finden.
Es ist eine Art Amulet, das Liebende gern tragen. Die Art, wie man es gebraucht, ist wunderlich: man muß es alle Morgen eine Viertel Stunde lang betrachten, bis man sich von einer Art Wohl- und Wehgefühl durchdrungen fühlt; alsdann applicirt man es auf seine Augen, auf seinen Mund und auf sein Herz: es soll so als Präservativ, sagt man, auf den ganzen Tag wider die böse Luft des galanten Landes dienen. Man mißt dieser Art Talisman auch noch eine sehr merkwürdige elektrische Tugend bei, die aber nur unter treuen Liebenden zur Wirkung kommt, nämlich daß er auf mehr als hundert Meilen weit dem Einen die Küsse des Anderen zuführt. Ich stehe nicht für den Erfolg des Experiments, ich weiß nur, daß er lediglich von dir abhängt.
Beruhige dich über die beiden Freier oder Bewerber oder wie du sie sonst genannt haben willst, denn der Name thut nichts mehr zur Sache, Sie sind fort. Mögen sie in Frieden hingehen; seit ich sie nicht mehr sehe, hasse ich sie nicht mehr.
Einundzwanzigster Brief.
An Julie.
Du hast es gewollt, Julie; ich muß sie dir also schildern, diese liebenswürdigen Pariserinnen! Stolze! diese
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