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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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der Leiter stand und das Fenster einsetzte, während Sim von innen dagegenhielt, erhaschte er durch die Scheibe einen Blick in den weiten Ausschnitt ihres T-Shirts, den sie – ganz klar – extra für diesen Zweck ausgeschnitten hatte. Sie trug keinen BH und ihre Brüste waren durchaus einen zweiten Blick wert. Den riskierte er und wäre beinahe von der Leiter gefallen. Blieb nur zu hoffen, dass Sim es nicht bemerkt hatte.
    Sie ging ganz schön zur Sache, das verwirrte ihn. Die weißen Mädchen aus den Kirchengruppen, die jeden Sommer ins Reservat einfielen wie Heuschreckenschwärme, gaben sich eher zugeknöpft und waren für ihn nie von Interesse gewesen. Lakota-Mädchen waren bis auf wenige Ausnahmen scheu und zurückhaltend, jedenfalls die, die traditionell aufgewachsen waren und deshalb später eine gute Ehefrau abgeben würden.
    Jimi hatte nicht den leisesten Schimmer, woran er bei Sim war. Erst fragte sie ihn stundenlang über Lukas aus, dann zeigte sie ihm ihre Brüste. Wollte sie etwas von ihm oder war das Ganze nichts weiter als ein Spiel für sie? Sie war seit Stunden allein mit ihm in diesem Trailer, kein Lakota-Mädchen ohne ernsthafte Absichten würde dergleichen tun. Aber sie war kein Lakota-Mädchen und er wusste nicht, was ihre Signale bedeuteten. Er könnte sich Klarheit verschaffen, könnte den ersten Schritt wagen und versuchen, sie zu küssen. Doch obwohl er ihr Verhalten als Ermutigung auffasste – irgendwie ergab sich nie eine Gelegenheit, und wenn er ehrlich sein sollte, dann fürchtete er sich davor, eine Abfuhr zu bekommen.
    Am späten Nachmittag, er hatte noch zwei weitere Fenster eingesetzt, packte er sein Werkzeug zusammen. Jo kam zurück, zusammen mit dem deutschen Journalisten – Michael. Sie hatte etwas mit dem Typen, das war kein Geheimnis. Nach der Scheidung von James hatte Sims Tante offenbar die Nase voll von Lakota-Männern.
    Jo inspizierte Jimis Arbeit und gab ihm sofort seinen Lohn. Sie zahlte gut, zehn Dollar die Stunde, das bekam er nirgendwo sonst. Aber nicht nur deshalb arbeitete er gerne für Jo, sie war fair und vertraute ihm. Und zufrieden war sie auch, das sah er ihr an.
    »Bis Freitag«, sagte Jo, als sie sich von ihm verabschiedete. »Du kommst doch?«
    »Ja, geht klar.«
    Sim saß auf der Treppe vor dem Trailer. Er setzte sich zu ihr und rauchte noch eine Selbstgedrehte, bevor er sich auf den Weg machte.
    »Freitag arbeitest du weiter?«, fragte sie.
    »Nein. Ich muss erst noch ein paar Dinge besorgen, bevor ich weitermachen kann. Freitagnachmittag kommen Luke und ich, um mit den Pferden zu arbeiten. Deine Tante hat da so ein Gruppending laufen, therapeutisches Reiten mit psychisch auffälligen Kindern. Wir helfen ihr, weil sie gleichzeitig den Laden geöffnet hat.«
    Jimi reichte Sim die Zigarette und sie nahm einen Zug. »Ich hab Angst vor Pferden.«
    »Du kannst nicht reiten?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich bring’s dir bei, okay?« Er stand auf und ging zu seinem Wagen. »Bis Freitag«, sagte er.
    Als Antwort winkte sie ihm.
    Michael hatte indisches Hühnchen gekocht und der Duft von Curry und Ananas zog durch den Raum. Beim gemeinsamen Abendessen erfuhr Sim einiges über die trostlose Situation der Jugendlichen im Reservat.
    Es gab an die vierzig Gangs in Pine Ridge, dem Reservat der Oglala-Lakota, das nur ein paar Quadratkilometer kleiner war als Thüringen. Von ungefähr sechsundzwanzigtausend Reservatsbewohnern zählte die Stammespolizei rund fünftausend männliche Jugendliche zu den Mitgliedern einer Gang. Sie nannten sich Wild Boys, Nomads oder Indian Mafia und hinterließen ihre Gangzeichen an Straßenschildern und verlassenen Häusern. Sie waren bewaffnet und dealten mit Drogen. Eltern und Großeltern hatten Angst vor ihren eigenen Kindern, deren Gewalt sie nicht mehr Herr werden konnten.
    Als Sim nach Gründen fragte, erzählte Jo von einer verlorenen Generation, von Kindern, die weit weg von ihren Familien in Internatsschulen gesteckt worden waren, wo sie ihre Sprache nicht mehr sprechen durften und systematisch ihrer Kultur entfremdet wurden.
    »Diese Generation brachte die nächste verlorene Generation hervor«, sagte Jo. »Wenn du keine Liebe erfährst, kannst du auch keine weitergeben. Es ist ein Teufelskreis. Viele Leute im Reservat haben kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr, keinen Sinn für die Zukunft. Sie kriegen einfach nichts auf die Reihe. Ihr Leben ist so beschissen, dass sie sich mithilfe von Alkohol oder Drogen in eine bessere

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