Julischatten
Großeltern Corbin und Arvella hatten ihm das Kästchen mit dem Wotawe, dem Medizinbeutel und den Geistertieren vermacht. Sein Urururgroßvater Horn Chips war der Cousin und Medizinmann von Tashunka Witko. Die beiden waren zusammen aufgewachsen und Horn Chips hatte die Medizin hergestellt, mit der sein Cousin in den Krieg zog und siegte. Nachdem der Häuptling in Fort Robinson ermordet worden war, hatten ihn sein Vater und Horn Chips an einem geheimen Ort begraben, in der Nähe des Wounded Knee.
Tashunka Witkos Medizin wurde von Horn Chips aufbewahrt und an seinen Sohn weitergegeben, der sie wiederum an seinen Sohn übergab. Nach dessen Tod ging er an seine Tochter Arvella, Jimis Großmutter. Als sie starb, hütete sein Großvater Corbin Little Wolf das Holzkästchen mit dem wertvollen Medizinbeutel und den Geistertieren.
Nur ein einziges Mal – an Jimis siebtem Geburtstag – hatte der Großvater in Gegenwart seines Enkels das Kästchen geöffnet. Darin lag, eingeschlagen in weich gegerbtes Leder, ein flacher weißer Stein mit einem Loch in der Mitte, der an einer Lederschnur hing. Ein Wotawe, Kriegsmedizin. Crazy Horse hatte, so erzählte Corbin, diesen Stein zu seinem Schutz an einer Lederschnur unter dem rechten Arm getragen, während er gegen die Weißen kämpfte. Der alte Mann hatte Jimi den Stein in die Hand gelegt und jetzt erinnerte er sich daran, wie seine Finger ihn für einen Augenblick ehrfurchtsvoll umschlossen hatten.
Im Kästchen aber waren noch andere Dinge gewesen. Der Medizinbeutel des Kriegshäuptlings, mit dem getrockneten Herz und dem Hirn eines Adlers, zusammen mit den Blüten wilder Astern. Eine ungewöhnlich große bemalte Adlerfeder und eine Schachtel aus steifem Leder, bemalt mit roten und gelben Mustern.
Der Großvater hatte die Schachtel geöffnet und Jimi nacheinander zwanzig winzige Lederfigürchen auf die offene Handfläche gelegt. Ein Büffel so groß wie ein halber Männerdaumen. Ein Hase, ein wunderschönes Pferd. Ein Schmetterling mit zarten Fühlern aus Leder und beweglichen Flügeln, eine winzige menschliche Hand. Jimi staunte sprachlos und konnte kaum glauben, dass die zarten Miniaturkunstwerke von Männerhänden gefertigt worden waren.
Schließlich hatte Corbin die heiligen Dinge behutsam zurück in das Kästchen gelegt. »Deine Großmutter ist gestorben und ich kann dir alles nur aus zweiter Hand erzählen«, sagte er zu Jimi. »Das Amulett und die Medizin von Tashunka Witko sind in der Familie Chips von Generation zu Generation weitergegeben und behütet worden. Ihre Macht hat die Tiospaye beschützt und geleitet, hat sie vor Irrwegen, Neid und falschem Stolz bewahrt. Eigentlich wäre deine Mutter Vida diejenige, die das Kästchen und seinen Inhalt jetzt hüten sollte. Aber bei ihr hat die Medizin nichts ausrichten können. Sie ist krank geworden und gestorben.«
Seine Mum, daran konnte Jimi sich noch vage erinnern, war sehr krank gewesen. Ihre Nieren hatten versagt und sie hatte mehrmals in der Woche ins Krankenhaus nach Pine Ridge gemusst, um ihr Blut reinigen zu lassen. Vergeblich hatte sie auf eine Spenderniere gewartet. Auch ein Besuch bei einem Lakota-Medizinmann hatte ihr nicht helfen können, sie war einfach gestorben, obwohl sie nicht einmal dreißig gewesen war. Nur ein paar Wochen später hatte auch seine Großmutter Arvella ihren Weg ins Land der Ahnen angetreten und er war mit seinem Großvater alleine geblieben.
»Ich bin ein alter Mann«, hatte Corbin gesagt, »und wenn ich sterben sollte, dann bist du der Hüter der Medizin. Du musst gut auf das Kästchen aufpassen, denn die heiligen Dinge haben große Macht. Wenn sie in falsche Hände geraten, kann damit viel Leid angerichtet werden.«
Sein Großvater hatte ihn ernst angesehen. »Einst gab es einige Lakota, die Crazy Horse seine Macht und seinen Einfluss neideten. Sie haben Lügen über ihn verbreitet. Ihre Nachfahren wissen von der Existenz dieser Medizin und der Kraft, die ihr innewohnt. Du musst den Inhalt des Kästchens vor diesen Menschen beschützen. Mit deinem Verstand und der Hilfe der heiligen Dinge kannst du eines Tages Gutes bewirken für dein Volk.«
Mit weit aufgerissenen Augen hatte Jimi den Worten seines Großvaters gelauscht. Ihm war schlecht geworden angesichts der Verantwortung, die der alte Mann ihm aufbürdete. Aber er hatte auch Stolz empfunden und er hatte seinem Großvater geschworen, gut achtzugeben auf die Medizin des Häuptlings, damit sie nicht in falsche Hände
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