Julius Lawhead 2 - Flammenmond
doch? Ich raufte mir die Haare und atmete tief durch. Was geschehen war, ließ sich ohnehin nicht rückgängig machen, ermahnte ich mich.
Brandon starrte in Gedanken versunken an mir vorbei und drehte langsam sein neues Armband. Ich wollte nicht länger neben ihm sitzen, stand auf und kletterte auf die Ladefläche des Dodge. Dort lag Amber zusammengekauert auf dem bloßen Metall und hatte sich ein Stück der Plane, mit der der Sarg abgedeckt war, über die Beine gezogen.
Ich roch das Salz getrockneter Tränen. Auf ihrem zerrissenen Shirt klebte Blut, ihr eigenes und das von Conway. Es war zu dunklen Flecken geronnen. Vorsichtig rutschte ich näher und strich ihr die verschwitzten Strähnen aus der Stirn.
Ich konnte noch immer nicht ganz glauben, was sie getan hatte, vor allem jetzt nicht, da ich mir sicher war, dass sie Brandons dunkelste Wünsche erfüllt hatte. Vorsichtig ließ ich meine Hände über ihre gebräunten Arme gleiten und kreuzte ihre Finger mit meinen.
Ambers Augen zuckten unter den Lidern. Sie wurde wach.
»Bist du das, Julius?«, fragte sie leise.
»Ja, ich bin bei dir.«
Eine Träne bahnte sich den Weg durch ihre Wimpern und tropfte auf meine Hand. Zitternd krümmte sie ihren Körper noch weiter zusammen.
»Halt mich fest.«
Ich zog sie in meine Arme, bettete ihren Kopf über meinem Herzen und drückte meine Wange auf ihr Haar. An den Sarg gelehnt, wiegte ich sie langsam vor und zurück.
Sie weinte stumm. Jetzt hatte sie noch einen Alptraum, noch einen Geist, der sie in ihrem Schlaf verfolgen würde. Früher hatte ich auch viele Alpträume gehabt, von Menschen, die ich getötet hatte, von Vampiren, die mich um Gnade anflehten, bevor ich sie hinrichtete. Sie waren alle fort, alle waren sie einer stumpfen Leere gewichen, die vielleicht noch schlimmer war, als sich an die Gesichter meiner Opfer zu erinnern.
»Was hast du nur getan, Liebes, was hast du dir nur angetan?«, flüsterte ich in ihr Haar und trauerte in diesem Moment nicht nur mit ihr, sondern auch um meinen eigenen Verlust.
Ich gab ihr Kraft, vertrieb den kühlen Abendwind mit warmer Magie.
Amber vergrub den Kopf an meiner Brust, als wollte sie nie wieder die Augen öffnen. Ihre Hände krallten sich in den Stoff meines Shirts.
Ich wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte, der erste Mord.
Der erste Tote, der nicht im Kampf starb oder weil man sein Leben oder das seiner Freunde verteidigte, sondern weil man es geplant hatte. Ich hätte mir gewünscht, dass sie diese Erfahrung niemals machen müsste. Jetzt war es geschehen, und etwas in ihr war kaputtgegangen, wie damals etwas in mir kaputtgegangen war. Amber weinte, nicht um Coe oder Conway, sie weinte um sich selbst, um ihre verlorene Unschuld. Ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, und ihre Trauer hatte etwas Gewalttätiges an sich, so sehr zuckte und bebte sie.
Ich legte zwei Finger unter ihr Kinn und hob es gegen ihren schwachen Protest.
Vor uns lag der See. Die Sonne war untergegangen, aber ihr Licht färbte noch immer die Wolken. Die eine Seite des Himmels war bereits nachtblau und die ersten Sterne zeigten sich, die andere glühte dunkel, als brenne ein Feuer in der Ferne. Brandon stand einsam am Ufer. Der Wind hob sein langes Haar und spielte damit. Als hätte er unsere Blicke gefühlt, drehte er sich um und kam langsam auf uns zu, bis er schließlich eine Hand auf den Dodge stützte und zu uns aufblickte.
Amber richtete sich auf und starrte in Brandons dunkle, leere Augen.
»Danke«, sagte er und ging wieder davon. Seine nackten Füße machten auf dem Sand keine Geräusche.
In diesem Augenblick wusste ich, ich würde Amber niemals davon erzählen, dass sie Brandons Rache ausgeführt und ich womöglich als Medium dafür gedient hatte. Amber rutschte von mir weg und streifte meine Hände von ihren Armen.
»Ich hoffe, Steven ist nichts passiert«, sagte sie leise und ließ sich von der Ladefläche in den Sand gleiten. »Das würde ich dir nie verzeihen.«
Hektisch schlug ich die Plane zur Seite, öffnete den Sarg und war erleichtert. Der junge Vampir sah aus wie eh und je. Ich setzte mich auf die Kante seines Sargs. Als er erwachte, war er einen Moment orientierungslos. Panik färbte seinen Geruch, dann beruhigte er sich.
»Es geht ihm gut!«, rief ich Amber zu, dann wandte ich mich an den jungen Mann. »Du bist wieder zurück bei uns. Coe ist tot. Du musst nicht bei ihm bleiben.« Ich berührte Stevens Arm. Er schlug meine Hand fort und setzte sich auf.
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