Jung, blond, tot: Roman
als normal einstufen, wobei >normal< immer eine Frage der Sicht, der Umstände und des Verständnisses ist. Der Begriff normal läßt sich nur schwer definieren, da er fast immer einer subjektiven Betrachtungsweise entspringt.
Aus der medizinischen und Kriminalliteratur wissen wir, daß Triebtäter und Serienmörder in der Regel besonders höflich, zuvorkommend, liebevoll, gute Ehemänner, Söhne oder Töchter sind. Sie fallen nicht auf, und wenn, dann meistens positiv. Nicht wenige von ihnen verfügen über eine beachtliche Intelligenz, ein IQ zwischen hundertzehn und hundertfünfzig ist nicht selten. Wobei ich zu Ihrer Frage komme; verdächtigen Sie mal einen netten, intelligenten Menschen, der es auch noch zu etwas gebracht hat!« Er hielt inne, räusperte sich, legte die Hände gefaltet auf die Schenkel und forschte in den Gesichtern von Durant und Berger nach einer Reaktion. Er fuhr lächelnd fort: »Doch es gibt andere Fälle, Fälle, in denen die Täter Zwangsneurotiker oder Paranoiker sind. Einzelgänger, die kaum Kontakt zur Außenwelt haben, die meist allein in einem Zimmer in einer schäbigen Absteige hausen, sich mit merkwürdiger Literatur umgeben und seltsame Riten zelebrieren. Ich kannte einen, der jedesmal bei Vollmond eine Katze tötete, ihr das Fell abzog, ihr Blut trank und sie Gott auf einem Altar als Opfer darbrachte. Es gibt eine Reihe religiöser Fanatiker unter den Serienmördern. Und doch sind es unauffällige Männer. Fragen Sie ihre Vorgesetzten, sie werden sie als still, unauffällig und fleißig bezeichnen und niemals auch nur einen Gedanken daran verschwenden, es mit einem Verbrecher zu tun zu haben. Ein Musterbeispiel für einen Serienmörder ist Haarmann aus den zwanziger Jahren. Er ist das absolut klassische Beispiel, der Prototyp des finsteren, unheimlichen Serienmörders, der in einer schäbigen Unterkunft hauste und seine Opfer fast ausnahmslos unter Strichern suchte, sie zu sich nach Hause lockte und durch einen Biß in die Kehle tötete. Und was er hinterher mit ihnen machte, sollte Ihnen bekannt sein. Aber Haarmann kann nicht mit den jetzigen Fällen verglichen werden. Unser Mann muß intelligent sein, das geht aus seinen anatomischen Kenntnissen hervor, dazu kommt das Ritual mit den roten Schleifchen, was für meine Begriffe eine gewisse Form von Liebe erkennen läßt. Meiner im Augenblick noch sehr persönlichen und unmaßgeblichen Meinung nach steckt vermutlich hinter dem Täter ein Mann, der aufgrund eines traumatischen Erlebnisses in seiner Kindheit oder Jugend diese Morde begeht. Auf jeden Fall ist er krank. Vielleicht ein Sadist im medizinischen Sinn, der nur dann Lust verspürt, was nichts anderes heißt, als daß er nur dann zur Ejakulation kommt, wenn er weiß, daß sein Opfer schlimmste Qualen durchleidet oder stirbt. Schauen Sie, die meisten von uns können ihr Temperament unter Kontrolle halten. Sicher, es gibt viele, die jähzornig, übertrieben eifersüchtig oder streitsüchtig sind. Aber in den seltensten Fällen wird sich eine solche Eigenschaft in exzessiver Gewalt äußern, vielleicht zerschlägt jemand Geschirr oder ihm rutscht mal die Hand aus, aber Mord? Nein! Der, niit dem wir es hier zu tun haben, ist vielleicht auch jähzornig, aber bei ihm hat der Jähzorn nicht ursächlich etwas mit seiner Abartigkeit zu tun. Andererseits kann der Täter aber auch ein Vorbild an Beherrschung sein, liebevoll, rührend um die Familie bemüht, er pflegt seine kranke Mutter, füttert sie, vergöttert seine Kinder, und, und, und - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.« Er zuckte mit den Schultern, räusperte sich erneut. »Und was könnten die Auslöser für die Morde, ich meine, was könnte der Grund sein, daß jemand so ausrastet?« »Gründe! Gehen Sie an einen kilometerlangen Sandstrand und zählen Sie die Sandkörner, dann haben Sie in etwa so viele Gründe, warum jemand tötet. Vielleicht hat dieser Mann, wie ich eben schon sagte, in seiner Kindheit oder Jugend ein traumatisches Erlebnis gehabt, vielleicht über einen längeren Zeitraum hinweg, das lange Zeit wie Magma im Innern eines Vulkans gekocht und gebrodelt hat und erst jetzt zum Ausbruch kommt. Gehen wir einmal davon aus, daß der Täter zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt ist. Nehmen wir einen Fall, wie es ihn gegeben hat, wo ein Junge ständig von seinem Stiefvater körperlich und seelisch mißhandelt wird. Schläge, drakonische Strafen für praktisch nichts, na ja, Sie können sich vorstellen, was
Weitere Kostenlose Bücher