Junger, Sebastian
Table Rock hinauf, und ein Mann in einer anderen Squad schien nicht
mehr so richtig mitzukommen. »Er darf hier nicht schlappmachen«, hörte ich
O'Byrne im Dunkeln Sergeant Mac wutschnaubend bestürmen. »Dazu hat er nicht das
Recht.« Die Vorstellung, dass man so etwas Menschliches wie die Erschöpfung
nicht empfinden darf, ist empörend. Und das gilt überall und jederzeit. Nur
nicht im Kampf. Gute Führer wissen, dass Erschöpfung zum Teil ein
Geisteszustand ist und dass die Männer, die ihr nachgeben, auf einer bestimmten
Ebene die Entscheidung getroffen haben, sich über alle andern zu stellen. Wer
nicht bereit ist, für andere zu marschieren, ist ganz sicher nicht bereit, für
sie zu sterben, und es wird zur Gewissensfrage, ob derjenige überhaupt zum
Platoon gehören darf.
Wenn man
einen Kommentar wie den von O'Byrne gehört hat, muss man sich gezwungenermaßen
Gedanken über die eigene Verpflichtung zum Durchhalten machen. Man hält eine
Patrouille auf, der Feind gewinnt Zeit, in Stellung zu gehen, und dann wird
jemand erschossen. Der Versuch, mich in der Rolle des Verantwortlichen für ein
solches Szenario zu sehen, glich dem Versuch, sich den Absturz eines Chinook
vorzustellen: An einem bestimmten Punkt weigerte sich mein Verstand, an diesem
Experiment teilzuhaben. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich doppelt
so alt war wie die Soldaten, aber nur die Hälfte dessen schleppte, was sie
trugen, und dass es deswegen irgendwie fair zuging. Ich war im College
Langstreckenläufer gewesen und hatte an Querfeldeinläufen teilgenommen, und
daher erinnerte ich mich, wie man dem langen und qualvollen Prozess des
physischen Zusammenbruchs begegnet. Er beginnt natürlich mit Schmerzen, aber
diese Schmerzen wohnen am Rand dessen, was ich mir als ein tiefes dunkles Tal
vorstellte. In der Talsohle lauert der totale Verlust aller Kräfte, aber es
kann Stunden dauern, bis man dort unten angelangt ist, denn man arbeitet sich
durch Phasen der Qual und Dissoziation, bis die Muskeln einfach zu gehorchen
aufhören und man nicht mehr darauf vertrauen kann, dass der Verstand sinnvolle
Befehle erteilt. Die wertvollste Lehre aus all meinen Erfahrungen als Läufer
lautete: Wenn es wehzutun anfängt, bist du der Talsohle noch längst
nicht nahe, und wenn du nicht schon bei den ersten Qualen in
Panik verfällst, kannst du noch viel, viel mehr aus dir herausholen.
Ich trug
eine ballistische Weste wie die Soldaten - in ihrer Sprache »IBA« (Interceptor
Body Armor) - und einen Helm, den sie einen Kevlar nannten. Beides zusammen wog
ungefähr fünfzehn Kilo. Ich hatte eine Videokamera dabei, die zweieinhalb Kilo
wog, zweieinhalb Kilo Wasser in einem CamelBak und vielleicht noch weitere zehn
Kilo an Nahrung und Kleidung, wenn wir über Nacht unterwegs waren. Ich konnte
den ganzen Tag mit fünfundzwanzig oder dreißig Kilo auf dem Rücken
marschieren, aber mehr als hundert Meter rennen an einem Stück konnte ich
nicht- niemand konnte es -, und nur sehr wenige Männer konnten mehr als ein
paar Schritte bergauf laufen. Ich trug meine Kamera an einem Halteriemen, aber
bei einer nächtlichen Operation schlug sie an die Felsen und ging kaputt. Die
neue befestigte ich an einem Karabinerhaken, der von meiner linken Schulter
herunterhing. Auf diese Weise schaukelte sie nicht so viel hin und her und ließ
sich auch schneller zur Hand nehmen. Ich hatte zusätzliche Akkus und Tapes in
meiner Weste ebenso wie ein Erste-Hilfe-Pack, und auf Patrouillen schnürte ich
ein CamelBak direkt an die Weste, sodass ich mein Pack weglassen konnte und
trotzdem okay war. Ich hatte meine Blutgruppe »O POS« auf meine Stiefel geschrieben,
auf meinen Helm und meine Weste, und mein Presseausweis steckte zusammen mit
einer Kopflampe, einem Klappmesser und einem Notizbuch mit Bleistiften in einer
zugeknöpften Hosentasche.
Bei
Patrouillen an heißen Tagen war das Verhältnis von Wassermenge zu Wegstrecke
entscheidend. Weder wollte man, dass das Trinkwasser ausging, noch wollte man
fünf Kilo zusätzlich schleppen, wenn es galt, im Eiltempo irgendwo hinzurennen.
Ich versuchte, dreiviertel meines Wassers getrunken zu haben, bis die
Patrouille kehrtmachte, und ab Beginn des steilen Anstiegs nach Restrepo nahm
ich immer wieder kleine Schlucke, damit ich leicht und hydriert war, wenn die
größte Wahrscheinlichkeit bestand, dass wir angegriffen wurden. Auf dem gesamten
Weg nach oben prüfte ich ständig meine Körperfunktionen: »Beine okay, Atmung
angestrengt,
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