Junimond (German Edition)
durchsichtigen Obstschalen und Joghurtbechern gefüllt.
Stella sagte nichts mehr, aber Nick las es in ihren Augen. Man wollte es verstehen, auf irgendeine Weise begreifen, aber es ging nicht, es war zu verrückt, jenseits von Mülltrennung und Sammelleidenschaft, ein vollkommen irrationaler Umgang mit den Gegenständen der Vergangenheit, die nur noch den Raum zum Leben in der Gegenwart verstopften.
»Bist du es, Nikolaus?«, hörte Nick Frau Dohms Stimme aus dem Wohnzimmer.
Stella grinste. »Nikolaus?«
»Ja, Nick ist für sie kein richtiger Name, sie hält es für eine Abkürzung«, flüsterte Nick und rief dann lauter. »Frau Dohm, ich bin's und Stella.«
43
Nick schob die Tür des Wohnzimmers einen Spalt breit auf. Frau Dohm saß zwischen hüfthohen Papierstapeln, mitten in ihrem Archiv auf einem großen Fernsehsessel. Neben sich, auf einem kleinen Hocker, hatte sie Fotoalben gestapelt. Es gab einen schmalen Gang vom Flur zu ihrem Sessel und eine Sichtschneise in Richtung des Fernsehers.
Sie hatte sich schick gemacht. Sie trug eine graue Perücke und ein Sommerkleid mit Blumen und ihre dicken und meist geschwollenen Füße steckten in viel zu schmalen, altmodischen Pumps. Nick hatte ihr erzählt, dass er Filmaufnahmen von ihr machen wollte und ihm war klar, dass sie sich deshalb fein gemacht hatte. Es musste sie Stunden gekostet haben, sich umzuziehen und zurechtzumachen und Nick hoffte nur, dass sie nicht zu viel erwartete.
Er winkte ihr von der Tür aus zu und sie winkte mit geröteten Wangen zurück. Stella schob sich vorsichtig neben ihn und winkte ebenfalls.
»Kommt doch herein!«, rief Frau Dohm, als wäre das gar kein Problem.
Nick ließ Stella vorgehen, die sich eng an ihm vorbeischieben musste und wählte dann den Gang Richtung Fernseher. So konnten sich die beiden Frauen begrüßen und er hatte Zeit die Kamera zu positionieren.
Wie er sich gedacht hatte, stand die Kamera am besten genau vor dem Fernseher. Er baute ein Stativ auf und setzte seine kleinste Kamera darauf, um Frau Dohm so wenig wie möglich zu irritieren, doch sie hatte offenbar wirklich mehr erwartet.
»Das kleine Ding ist die Kamera?!«
»Ja, sie macht gute Aufnahmen«, sagte Nick, programmierte das Funkmikrophon und schaltete die Kamera ein.
Frau Dohm nickte skeptisch, beschloss dann aber, Nick zu vertrauen und wandte sich an Stella.
»Setz dich doch!«, sagte sie und deutete auf einen der niedrigeren Zeitungsstapel.
»Diese Fotoalben habe ich schon für euch rausgesucht!« Sie klopfte auf den Stapel mit Fotobüchern und Nick schlängelte sich höflich zu ihr zurück, gab Stella das Mikro und setzte sich neben Frau Dohm, um mit in das Buch gucken zu können.
Das Album war alt, die Fotos waren schwarz-weiß und vergilbt und steckten in winzigen Pappfotoecken.
»Das ist meine Mutter!«, sagte Frau Dohm und zeigte auf das Foto einer mondänen Frau in einem schmalen Kostüm.
»Ach, ja?«, sagte Stella freundlich.
»Und hier steht meine Mutter vor dem Kino, in dem sie ihren ersten amerikanischen Film gesehen hat. Im Westen nichts Neues .« Sie machte eine bedeutsame Pause, die Stella mit einem anerkennenden Nicken füllte. Nick war froh, dass er nicht allein mit Frau Dohm reden musste, Stella machte das erheblich besser und war viel geduldiger. Er verzog sich lieber hinter die Kamera.
»Der Film hatte 1930 im Mozartsaal in Berlin seine Uraufführung. Meine Mutter hat mir erzählt, wie aufgeregt sie war. Sie wollte in die 19 Uhr-Vorstellung.«
»Das war sicher ein großes Ereignis für ihre Mutter.«
»Aber sicher! Sie hat mir immer wieder davon erzählt.«
Nick warf Stella einen ungeduldigen Blick zu. Er wusste, dass Frau Dohms Energie begrenzt war und wollte nicht, dass hieraus ein Kaffeeklatsch wurde und sie schon erschöpft war, wenn sie zu den wichtigen Fragen kamen. Doch Stella bedeutete ihm mit einem Blick, ihr Zeit zu lassen.
»War ihre Mutter in der Vorstellung?«, fragte sie freundlich.
»Nein, sie hat die Aufführung nie gesehen.«
»Ach, warum denn nicht?«
»Die Vorstellung wurde gestört. Gauleiter Goebbels hatte das mit seiner SA organisiert. Er hielt den Film für einen Hetzfilm, weil es ein Antikriegsfilm war. Sie wollten den Film verbieten lassen.«
Nick sah erstaunt hinter der Kamera auf.
»Wirklich?«
Das war eine spektakuläre Information. Aber verwechselte Frau Dohm hier nicht etwas? 1930 war die NSDAP noch nicht an der Regierung, er konnte sich das kaum vorstellen.
»Doch, doch!«, sagte
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