Junimond (German Edition)
bitte etwas mehr Aufmerksamkeit für ihre nächtlichen Recherchen gewünscht. Auf einmal kam sie sich wie eine Lehrerin vor, die es nicht schaffte, ihre Schüler für etwas zu interessieren, was sie selber faszinierte. War es nicht spannend, wie sich die Menschen unter den neuen Bedingungen arrangiert hatten? NS-Zeit, Sozialismus, Wende? Aber vielleicht war das nur für sie spannend, da sie es selber ständig erlebte. Sie hatte sich ständig irgendwo neu einleben müssen. Olivia kannte das wohl nicht.
»Nun«, sagte Stella, »1942 wurde seine Filmfirma wie alle anderen bis dahin noch privaten Filmfirmen aufgelöst.«
Sie schwieg und gab Olivia Zeit zu reagieren. War das nicht eine Information, für die man mal aufsehen konnte, statt Grimassen vor einer Filmkamera zu schneiden?
Und Olivia sah tatsächlich auf. »Hej, mein Vater hat immer erzählt, hier hat«, sie legte ihre Stimme tiefer »der bedeutendste Repräsentant des DDR-Kinos gewohnt.«
»Du weißt also doch etwas über dein Haus?«
Olivia zuckte mit den Schultern. »Ein wenig.«
»Dein Vater meinte wohl Kurt Maetzig«, sagte Stella und blätterte in ihren Karteikarten. »Ja, das stimmt. Dreiundzwanzig abendfüllende Spielfilme, neun Dokumentationen für die DDR, alle wohl ziemlich propagandistisch.«
Olivia nahm die Kamera herunter, mit der sie gerade eher lustlos den Vorgarten filmte und sah Stella an.
»Ziemlich propagandistisch?«, fragte sie kritisch. »Er mag ja ein Hardcore-Ideologe in der DDR gewesen sein, aber er hatte seine Gründe, verstehst du? 1937 wurde ihm die Arbeit beim Film untersagt, weil seine Mutter Jüdin war. Sie beging kurz vor Kriegsende Selbstmord.«
Das hatte Stella nicht gewusst.
»Echt?«
»Natürlich, warum sollte ich mir das ausdenken. Die DDR war vermutlich für ihn, na ja, Zukunft.«
»'tschuldigung. Ich dachte ... wieso weißt du das überhaupt?«
Olivia sah sie amüsiert an.
»Sorry, es gibt vielleicht auch noch so etwas wie mündliche Überlieferung?«
Das klang ironisch. Stella kniff die Augen zusammen. Eine Angewohnheit, die kritisches Nachdenken vortäuschen sollte, aber eigentlich ein Zeichen für Unsicherheit und Verlegenheit war.
»Okay, erzähl!«
Olivia zuckte lässig mit den Schultern.
»Na, ich habe meine Eltern mal gefragt, warum sie im Osten aufgewachsen sind, weil es doch im Westen besser war. Du weißt schon, so eine schlaue Kinderfrage.« Sie grinste schief. »Ich dachte, sie reißen mir den Kopf ab. Und da habe ich dann ihre Version von Ost und West bekommen. Und ihre Geschichten.«
Stella nickte.
»Und weißt du was?«, Olivia sah Stella ernst an, »auch wenn es die DDR und den Osten nicht mehr gibt, wenn das alles irgendwie weg ist. Da komme ich her. Das ist meine Geschichte.«
54
Sie saßen in der Küche des Märchenschlosses und Olivia kochte Tee. Den hatten sie beide gebraucht und Stella überlegte sogar, ob sie nicht duschen sollte, wenn sie schon mal in der Nähe von fließendem, warmem Wasser war.
»Hier«, sagte Olivia und reichte Stella eine Teetasse mit einem sepia-farbigen Landschaftsmotiv und einem vergoldeten Henkel auf einer goldumrandeten Untertasse. Stella nahm die Tasse skeptisch entgegen. Sie sah zu teuer aus, um einfach Tee daraus zu trinken. Olivia sah ihren Blick.
»Porzellanfabrik Nymphenburg. Tasse und Untertasse etwa 3000 Euro. Ich bemühe mich, die Sachen zu benutzen, damit sie mal kaputt gehen, aber bisher hatte ich kein Glück.« Sie grinste. »Mach nicht so ein entsetztes Gesicht? Stell dir einfach vor, sie kosten 1,99 und sind von ... Aldo.«
»Aldi?«
»Genau.«
Stella nahm die Tasse in die Hand. Sie war sehr sorgfältig angefertigt und mit einem feinen Muster bemalt. Es war keine billige Tasse aus einem Supermarkt und wenn man hinsah, erkannte man das auch. Es gab einen Unterschied und das war nicht nur der Preis. Es war eine gute handwerkliche Arbeit.
»Das ganze Service wird mit historischen Gussformen angefertigt und handbemalt. Das waren früher Fürstentassen«, sagte Olivia.
Stella gab ihr die Tasse zurück. »Okay, hast du auch noch etwas, aus dem man trinken kann?«
Olivia lachte, stellte die Tasse zurück in den Schrank und holte zwei einfache weiße Becher, in die sie zwei Beutel Chai-Tee hängte. Dann goss sie Wasser auf. »Keine Angst, wir haben kein ganzes Service davon. Meine Mutter hat nur die Tasse geschenkt bekommen. Nach der Wende. Sie hatte keine Ahnung, wie teuer die Tasse ist. Irgendein Verehrer, der wusste, dass sie auf
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