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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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einer Handbewegung an, dass er sitzen bleiben solle.
    »Gut möglich, dass man mich ermordet. Sie sollen nicht mit mir sterben, sondern müssen die Geschichte erzählen. Wenn Ihnen etwas fehlt, kennen Sie ja meine Adresse. Dort finden Sie alles, was Sie brauchen. Den Koffer, der wie ein Haus für mich war, und einen Berg ungezählter Kassetten.«
    Als er die Tür fast erreicht hatte, hielt er einen Moment inne und drehte sich nochmals um, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, hören Sie sich an, was der Kassettenrekorder wiederzugeben hat.«
    Es war etwa vier Uhr morgens, als er auf die Straße hinaustrat. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er sich gerade von jeder Last und jeder Sünde befreit hatte.
    Er hatte einen langen Weg zurückgelegt und war einen Augenblickstehen geblieben. Langsam atmete er und blickte vor sich. Da entdeckte er in der Ferne das Haus, in das er zurückkehren wollte, genau am Ende der breiten Straße, an deren Anfang er stand. Er sah die von ihm ausgehenden matten Lichter. Da beschloss er loszugehen und eilte auf die Gartenmauer zu. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ihm bewusst wurde, dass nicht er sich den Lichtern, sondern sie sich ihm näherten. Sie verwandelten sich mit einer seinen hechelnden Atem übersteigenden Geschwindigkeit in ein glühendes Strahlenbündel, das sich mit dem heißen, aus seinem Kopf sickernden Blut vermischte. Sein Atem ging immer hastiger, als wolle er sich dem Peitschen der Schüsse anpassen: dum, dum, dum ... dum ... die Schüsse, die ihn trafen, als er mit letzter Kraft über die Mauer in den Garten seines Hauses sprang.
    Bis zu dem Moment, da er auf dem Boden aufprallte und sein Körper in das weiche Gras sank, hatte er für unmöglich gehalten, dass ein anderes Leben in ihn fahren würde. Ihm stand die Szene vor Augen, die Szene seines Todes, wie er sie dem Erzähler gerade erst in der geheimen Bar, der Mekka-Bar, vorgelesen hatte. Aber als er ein kleines, etwa elf Jahre altes Mädchen auf sich zukommen sah, das sich neben seinen Kopf hockte und ihn mit der Hand berührte, da wusste er, diesmal würde er leben …

Der Anfang der Geschichte
    »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, hören Sie sich an, was der Kassettenrekorder erzählt.« Dieser Satz war mir im Gedächtnis geblieben, seit er mir das Gerät gegeben hatte. Er ging mir auch nicht aus dem Sinn, als ich mich in dem kleinen Zimmer verschanzte, das einmal sein Zimmer gewesen war. Ich rieb mir die Augen und schaute aus dem Fenster. Viele Stunden mussten vergangen sein, seit ich mich auf das Bett gelegt und seiner Stimme aus dem Kassettenrekorder gelauscht hatte. Mit einiger Mühe hatte ich mich wach gehalten, um alles zu erfahren, was der Kassettenrekorder zu berichten hatte. Was er von sich gab, war einerlei; wichtig war nur mein Zuhören, um wirklich alles mitzubekommen und mich gegen alle Überraschungen zu wappnen, die noch folgen mochten. Es war, als wüsste ich, dass ich nicht mehr dieselbe Person wie vor dem Abspielen der Kassetten sein würde und mich am Ende außergewöhnlich anstrengen müsste, um den Rest der Geschichte aufzunehmen.
    »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, hören Sie sich an, was der Kassettenrekorder erzählt.« Dies waren seine abschließenden Worte bei unserer letzten Begegnung. Er hatte aber mir zu sagen versäumt, was er mit »Wahrheit« meinte: War es seine Wahrheit, also seine erlebten Geschichten, die das Gerät wiedergab, oder waren es andere, erfundene? Meist schienen siemir mit dem wirklichen Geschehen nicht im Zusammenhang zu stehen. Ich meine nicht die Geschichte der zwei Brüder, ihren Tausch von Namen und Identitäten. Diese Geschichte könnte von jemand anderem ausgedacht worden sein. Nein, ich meine all die anderen Geschichten, die in die seine verwoben sind. Vielleicht brauche ich Zeit, um Ordnung in seine manchmal märchenhaft klingenden Erzählungen zu bringen.
    Warum glauben wir an Geschichten, als seien sie wirklich geschehen, obwohl sie nach bestem Wissen erfunden sind? Was aus dem Kassettenrekorder tönt, erscheint manchmal wirklich, dann wieder, als wäre es aus mythischer Zeit überliefert. Ich neige eher zu der Annahme, dass er sich Geschichten ausdachte und sie für mich mit diesem Apparat aufnahm. Als sei ich Jussif Mani und er Harun Wali, sein Freund, der Schriftsteller; als sei ich der Kranke, er der Arzt, der ihn heilen will. Als habe er den Spieß umgedreht, habe Namen, Personen und

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