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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Geschichten vermischt, was mich nicht einmal von dem Spiel ausschließt. Für einen Gleichgültigen ist es schwerer als für mich, sich an seine Stelle zu versetzen und den Geschichten auf der Kassette zu glauben oder ihre verworrenen Rätsel zu lösen, gleich ob es sich um die Beschreibung von Orten oder um landeskundliche Darstellungen handelt. Es ist, als liefen die Geschehnisse nicht in diesem Land ab, als sei die Erinnerung an Orte, Straßen, Märkte und Kinosäle nicht zerrüttet (außer die an die vielen Kriege, an die Anarchie, an den Mord und die Verwüstung). Als gleiche sein Bewusstsein dem jener Höhlenmenschen, die nicht wahrhaben wollten, dass sie im Zustand der Bewusstheit lebten und nach dem Verlassen der Höhle eine Welt vorfanden, die sich von der, die sie verlassen hatten, unterschied. 1 Doch er ist nicht der Einzige, der so handelt.In all einen Geschichten stößt er auf Menschen, die so tun, als sei nichts geschehen, als seien sie alle Teil einer großen Groteske. Diese Groteske hat er sich gewiss nicht nur für mich ausgedacht, sondern in erster Linie für sich selbst. Als hätte er dadurch den idealen Weg für sein Überleben gefunden: durch das Erzählen von Geschichten.
    1 Anspielung auf Sure 18 aus dem Koran (»Surat al-kahf« – »Die Höhle«).
    Warum überlasse ich es ihm allein, für die Folgen einzustehen? Hätte ich mich nicht auch so verhalten? Hätte ich den Einschaltknopf des Geräts gedrückt, wenn es anders gewesen wäre? Habe ich es um seinetwillen getan, weil ich seinen Worten »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, müssen Sie hören, was der Kassettenrekorder erzählt« vertraut habe? Oder war es um meiner selbst willen, der ich für ihn eine Geschichte erfunden habe, weil er nicht wahrhaben wollte, dass auch er krank ist, dass auch er zu diesem Heer von Kranken gehört, die täglich angekarrt und – was nicht erstaunlich ist in diesem Land – immer mehr werden, im Land der »Gedemütigten und Siegreichen«? Ja, ich drehe ihm seine letzten Worte im Munde um und wiederhole sie genauso oft wie er. Oder wollte auch ich durch das Erzählen von Geschichten nur überleben, habe aber meine eigene Geschichte vergessen, nachdem alle Patienten aus dem Krankenhaus, in dem ich arbeitete, ausgerissen sind (ich erfinde eine neue Geschichte!)? Wer sind wir? Stimmt es, dass wir nur leben, wenn wir uns in die Figuren der Geschichten verwandeln, die wir einander erzählen? Sind wir Wesen, die Namen und Identitäten untereinander tauschen? In unserem Fall haben wir uns ahnungslos zu dem Tausch hinreißen lassen, wie wir aus den einst gelesenen Geschichten und aus den alten, vor langer Zeit geschauten Schwarzweißfilmen erfahren haben. Doch wie konnten der Kranke und sein Arzt die Rollen miteinander wechseln? Habe ich Angst, ebenso zu enden wie er? War dies Ursache für mich, ihm Geschichte um Geschichte zu erzählen, viele verschiedene Geschichten?
     
    Und er? Hat er sich nicht so benommen, als sei er durchdrungen von dem Rat, den seine Tante ihm einst mitgab: »Du musst all ihre Geschichten erzählen!«? Hat ihm deshalb die Geschichte Josef Karmalis oder Josef K.s so gefallen? Hat er sie deshalb mir übergestülpt, als fälsche ich Papiere und bemale Schilder, nicht aber der Erzähler, dem er nah sein und den er bitten wollte, seinen Geschichten zu lauschen und seinem tatsächlichen Schicksal zu glauben? Wenigstens einmal erleben, was er erlebt hat, all die Orte besichtigen, an denen er vorübergekommen ist! Wenigstens einmal die Augen zu schließen versuchen, wenn es die Umstände erfordern, wenigstens einmal fragen, was er meinte: den Albtraum erleben und nicht wissen wollen, wann genau es geschehen ist. Seit wann findet der Albtraum in einer bestimmten Zeitspanne statt ... ist er denn nicht zeitlos?
    Nachdem ich die Kassette, »die Kassette des Schmerzes«, weggeschlossen habe, möchte ich jetzt am liebsten auch die Kassette der Erinnerungen wegschließen, die Geschichte beenden und das Zimmer verlassen, das ursprünglich sein Zimmer gewesen ist, möchte dem Haus den Rücken kehren, in dem ich mich verschanzte, seit ich erfuhr, was ihm als Letztes zugestoßen war. Ich möchte nicht mehr zögern und endlich ins Krankenhaus eilen, erneut im Leichenschauhaus nach seiner Leiche suchen, um ihm mitzuteilen, der Kassettenrekorder habe meine Verwirrung nur verstärkt und er müsse mir jetzt wirklich helfen, bevor auch ich aus dieser Hölle flüchte. Ich möchte ihm sagen, dass ich – wenn er

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