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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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dieses Tages, als der Appetit sich in ihm zu regen begann, hatte er einen weiteren Telefonanruf erhalten. Es war sinnlos gewesen, den Besitzer der Stimme zu fragen, wer er sei, wer ihn schicke und warum er ausgerechnet ihn aus den Tausenden von Junissen ausgewählt habe. Doch Jussifs Worte verloren sich im Gebrüll des Stimmenbesitzers, der ihn durch die Muschel des Telefonhörers anschrie, dass er keine Fragen zu stellen habe: »Der jüngste Tag ist angebrochen!Der Mörder muss seine Schulden begleichen!« Diese Drohungen machten Jussif wütend, und er warf den Hörer gereizt auf die Gabel. Er erinnerte sich, dass er sogar den Telefonstecker herausgezogen hatte. Er wollte dieses unheilbringende Gekreisch nicht mehr hören. Oh, wie hasste er diese Anrufe! Seit das Telefon im Haus installiert war, hatte es ihm keine einzige frohe Nachricht gebracht. Warum hatten sie überhaupt ein Telefon? Selbst Sarab ließ es schließlich klingeln, ohne den Hörer aufzunehmen. So musste Jussif es für sie tun. Auch sie glaubte, dass der große alte schwarze Apparat, der dort hockte wie ein dickes Insekt, mit jedem Klingeln nur Gift versprühte.
    Minibusse und Menschen begannen den Platz des Busbahnhofs allmählich zu füllen. Die Menge schien sich ungewöhnlich schnell zu bewegen und machte mächtigen Lärm. So begann für sie die tägliche Arbeit. Für Jussif hingegen bedeutete dies den Anfang eines neuen Tages voller Qualen und Traurigkeiten, an dem er mit sich selbst, mit Jussif, zu kämpfen hatte.
    Jussif kletterte auf den Coster nach Kadhimija und suchte sich einen Platz zwischen den anderen Passagieren. Er schaute nach rechts und nach links, um sich zu vergewissern, dass ihm wirklich niemand folgte. Wie seltsam war es doch, dass es nach all den Jahren, da das ganze Land von Zerstörung betroffen war, tatsächlich noch jemanden gab, dem die Geschichte um seinen Namen etwas bedeutete!
    Plötzlich dachte er an die Worte Josef Karmalis, der sich Josef K. nannte. Sie gellten ihm in den Ohren, als seien sie dort ein ewiges Echo: »Erinnerung ist von Menschenhand gemacht. Niemand hat sie je gesehen. Niemand hat seine Vergangenheit als Zukunft.«
    Stolz erzählte Josef K. von seinem Leben, von den Abenteuern auf See. Er war ein Mann von unverfälschtem, ursprünglichem Wesen. Er alleinbesaß den »Code« zu seiner eigenenPersönlichkeit. Je nach Herkunft seines Gesprächspartners wählte er einen anderen Namen aus: Sprach er mit einem Inder, gab er sich den Namen Ram Schana, sprach er mit einem Sri Lanker nannte er sich Ram Sanch, sprach er mit einem Chinesen, hieß er San Sinan, sprach er mit einem Vietnamesen, war er Schun Schamun, sprach er mit einem Christen, stellte er sich als John Samuel vor, sprach er mit einem Juden, verwandelte er sich in Jussip Schamuel, und er wurde zu Jussif Ja’qub, wenn er mit einem Muslim sprach. Wenn er aber mit einem Skeptiker wie Jussif sprach, zog er es vor, Josef K. zu sein. So wurde dieses Verhalten, mit dem er sich seinen Gesprächspartnern anpasste, schließlich zu einem Automatismus.
    Aber Josef Karmali oder Josef K. vergaß, dass jeder Mensch belastende Erinnerungen mit sich herumschleppt, für die er keinen Zeugen hat außer sich selbst. Man trägt sie mit sich, wohin auch immer man geht, mit allen Gesichtern, Namen und Masken. Manchmal zogen die Erinnerungen Jussif an wie Magneten, einerlei ob er meinte, mit ihnen abgeschlossen oder sie verdrängt zu haben, weil er manchmal nicht wusste, wo er mit dem Vergessen anfangen sollte.
    Wann hatte die Sache mit seinem Namen »Jussif« eigentlich begonnen? War es wirklich nach dem Tod des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt? Oder war es später, als er Sarab mit gefälschten Papieren heiratete? Oder noch später, als er Josef Karmali oder Josef K. aufsuchte und sich neue Papiere mit neuem Namen ausstellen ließ? Oder war es, als die Feldjäger ihn als den Fahnenflüchtigen »Harun Wali« verhafteten? Oder noch später, als er sich den Namen seines Bruders zu eigen machte, ohne es mit ihm abzusprechen? Wenn er sein Gehirn zermarterte, um herauszufinden, wann alles begonnen hatte, wurde er sich der Schwierigkeiten bewusst, einen Ausgangspunkt für alles zu finden. Es gab keinen Punkt, weder jetzt noch zukünftig. Egal,wo Jussif sich herumtrieb – zu Hause oder im Krankenhaus, im Büro oder auf der Straße, im Obduktionssaal der Gerichtsmedizin oder im Gefängnis des Geheimdienstes, im Coster-Minibus

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