Jussifs Gesichter
auf dem Folterstuhl saß, hatte er sich in ein nacktes, zerfetztes Stück menschlichen Fleisches verwandelt, das nicht mehr fähig war, zwischen Ohnmacht und Tod zu unterscheiden. Er war nicht mehr mit Folterknechten in der Folterkammer, sondern mit dem kleinen Mädchen, das er draußen gesehen hatte, als sie durch die Hauptwache in das Verteidigungsministerium eingetreten waren. Ihr Bild vermischte sich mit einemälteren Bild, dem vagen Bild des Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, dem er den Todeskuchen gereicht hatte. So gelang es Jussif, jede Art der Folter zu ertragen.
Jussif überquerte die Brücke des 17. Juli. Erst jetzt begann sein Gedächtnis zu arbeiten, jedoch in umgekehrter Richtung. Es war ein Paradox: Er ging denselben Weg, den er damals mit den sechs anderen Soldaten unter Führung des bemüht freundlichen Feldwebels marschiert war. Seltsamerweise bemerkte Jussif, dass sich die Gegebenheiten nicht unterschieden. Sogar das Umfeld hatte sich nicht verändert. Oder es hatte sich nur in dem Maß verändert, in dem auch er ein anderer geworden war. Doch er hatte es nicht bemerkt, weil er – beschäftigt mit den Verwüstungen in seiner Seele – seiner inneren Stimme lauschte und nicht auf seine Umgebung achtete. Wie hätte er eine Veränderung bemerken sollen, da doch alles mit ihm Verbundene verunglückt und elend war? Wo Menschen sind, herrscht Elend. Wo Platz ist, breitet sich das Elend aus. Er merkte nicht zum ersten Mal, dass das Elend ihn in eine Leiche und seine Umgebung in einen Sarg verwandelte.
Auch damals meinte er, er fühle sich an wie eine Leiche. Seit er an der Wache der Muhawail-Kaserne mit steifen Beinen in den Minitransporter der Marke Rim gestiegen war, waren er und seine sechs Kameraden nur noch wie Leichen. Als er auf der Straße nach Bagdad in ihre Gesichter blickte, dachte er bei sich, dass es nicht sehr weise gewesen war, dies bei ihrer Verhaftung außer Acht zu lassen. Sie brauchten nicht mehr in den Spiegel zu schauen; es reichte, einander anzublicken. Sie pfiffen, sangen und lachten, als seien sie auf einem Spaziergang und nicht unterwegs zur Gefängniszelle im Internierungslager der öffentlichen Geheimdienstzentrale des Verteidigungsministeriums. Währenddessen sah Feldwebel Daham nur noch lächerlicher aus. Er bemühte sich, in seiner sauberen Ausgehuniformeine elegante Erscheinung zu sein, und genoss es sehr, mit seinen Gefangenen in der Öffentlichkeit Bagdads zu erscheinen. Zwar war das gefährlich, besonders wenn einer die Flucht ergriff. Dann würde man auch ihn sofort verhaften und erst wieder freilassen, wenn man den Geflohenen aufgegriffen hätte. Aber Daham wusste, in welcher Lage sie sich befanden. Ihm war klar, dass sie keine gewöhnlichen Soldaten waren, sondern Absolventen der Universität. Sie waren gehorsamer als andere und gingen ohne Widerstand ins Internierungslager. Warum hatten sie nicht einmal geschrien? Waren sie die Einzigen, die ins Lager gingen, oder waren da noch andere auf dem gleichen Weg?
Als Jussif die Brücke des 17. Juli überquerte, der er von nun an den Namen »Brücke zur ›Medizinstadt‹« geben würde, begann er Gegenstände, Gebäude, Märkte und die Gesichter der Menschen zu betrachten, als sähe er sie zum ersten Mal.
Zuvor hatte er sich gesagt: Ich schaue auf Dinge und Leute wie damals, vor mehr als zwanzig Jahren. Aber jetzt kannte er den Unterschied, obwohl er in beiden Fällen dem Ruf eines seltsamen Menschen tatsächlich folgte: In der Vergangenheit war es die offizielle Macht, repräsentiert durch Feldwebel Daham. Heute war es eine andere offizielle Macht, repräsentiert durch den Besitzer der Stimme. Diesmal allerdings besaß er die Freiheit, sich zu verteidigen, die Freiheit, dem Tod zu entrinnen oder wenigstens in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Damals war er weit weg von Patrouillen und Verfolgern, von Polizeiwagen und Militärs, von dem ganzen Heer von Männern mit markanten Gesichtern und dicken Schnurrbärten. Heute bewegte er sich fort von dem Ort, der ihn umgab, weit weg von seinen beiden Verfolgern, von den ausländischen Militärkolonnen und der lokalen Polizei, von den neuen Militärfahrzeugen und den amerikanischen Humvee -Panzerwagen, die mehr die Ein-und Ausgänge der Stadt als ihre Straßenund Plätze blockierten. Er nahm die Soldaten wahr, aber ihre Uniformen waren ihm fremd. Weder bemerkte er, dass sie den irakischen Dialekt mit Akzent sprachen, noch dass
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