Jussifs Gesichter
draußen. Wehe euch, wenn ihr euch noch ein einziges Mal vor dem Tor blicken lasst!« Als seine sechs Kameraden mit ihm zum Tor hinausgingen, sagten sie: »Lasst uns schnell verschwinden. Wir treffen uns morgen Nachmittag in der Kaserne.« Dann waren sie auseinandergegangen.
Als Jussif danach das Geschäftszimmer aufsuchte, um sich seinen Wehrsold auszahlen zu lassen und die Verfügung für seine Versetzung in den Norden abzuholen, stellte er fest, dass sein Name zusammen mit denen seiner sechs Kameraden aus der Wehrsoldliste gestrichen worden war. Als er den Rechnungsführer, einen für die Abrechnung zuständigen Feldwebel, danach fragte, antwortete dieser aufrichtig lachend: »Wer hätte schon geglaubt, dass ihr mit der Seele im Leib wieder auftauchen würdet! Bisher ist niemand lebendig und ohne Schlag auf seinen Gehirnkasten aus den Löchern der Geheimdienstler zurückgekehrt!« Es hatte also tatsächlich niemanddamit gerechnet, dass sie lebend zurückkehren würden. Als ihre Kameraden, die Soldaten des Bataillons, sie ankommen sahen, schlossen sie sie in die Arme und riefen: »Dank und Friede sei Gott!« Sie hatten nicht erwartet, sie unversehrt wiederzusehen. Sogar der fette Sicherheitsoffizier des Bataillons, Hauptmann Schakir ’Abud ’Ali, hatte sie holen lassen. Unhöflich und ungewöhnlich leise fragte er sie, was ihnen im Geheimdienstgefängnis widerfahren sei. Doch sie antworteten: »Nichts. Wir sind höflich verhört worden, so wie man auch Sie verhören würde. Die Ermittlungen haben unsere Unschuld bewiesen.« Der Hauptmann, genannt »die Scheißtonne«, schwieg ungläubig und musste sie schließlich ratlos entlassen. »Es war nichts« – diese Worte wiederholte Jussif, wenn ihn jemand im Bataillon fragte und auch sich selbst gegenüber, bis er es am Ende selbst glaubte. Aber es war nicht die Wahrheit.
Sie warfen ihn zu Boden, traten ihn mit ihren klobigen Stiefeln und prügelten mit Schlagstöcken auf ihn ein. Er durfte nicht auf dem Boden liegen bleiben. Wenn es ihm nicht gelang aufzustehen, brachten sie ihn mit einem Hieb wieder auf die Beine. Und jedes Mal dachte er: »Vor diesen Schlägen rettet mich nur der Tod.« Er malte es sich aus, wie es wäre, tot zu sein. Das kleine Mädchen würde an seinem Kopf stehen. Sie wäre ratlos, wüsste weder ein noch aus. Er stellte sich vor, sie flüstere ihm ins Ohr, dass er vergessen solle.
»Lasst uns alles vergessen«, sagten sie zueinander, als sie am 16. März 1984 nach der Entlassung an der Kreuzung am Platz beim Bab al-Mu’adhdham standen. Es war, als hätte jeder von ihnen fortan beschlossen, sein Leben auf seine Art und Weise zu gestalten.
Jussif wusste noch genau, wie er sich damals fühlte. Er müsste alles verdrängen, was mit der Erinnerung an das Geheimdienstgefängnis zusammenhing. Er müsste mit dieser Geschichte abschließen, um wirklich ohne Angst am Lebenbleiben zu können. Doch das war nicht so einfach. Noch lange schreckte er zusammen, wenn sich Türen öffneten oder schlossen. Seit er in der Zelle gesessen hatte, wusste er, dass eine Tür der Eingang ins Leben oder der Ausgang in den Tod sein konnte. Sie war es, die über das Schicksal eines Menschen entschied. In der Zelle fürchtete er stets das Schlimmste, sobald sich die Tür öffnete. Normalerweise nahmen sie ihn zu einer anderen Tür mit, und wenn sich diese vor ihm öffnete, blickte er in die Folterkammer. Die Tür selbst war ein Folterwerkzeug. Dies blieb noch lange so, auch als er schon längst in den Verwaltungsbüros arbeitete. Die Folterer hatten eine besondere Art, Türen zu öffnen: Sie stießen sie grob mit ihren Fäusten oder Gewehren auf. Damit verhinderten sie, dass man sich je sicher fühlte. Es war, als wollten sie einem beweisen, dass man sich nicht im Haus der Familie oder von Freunden befand, sondern bei ihnen, im Gefängnis. In der Zelle lernte Jussif, dass es nicht der körperliche Schmerz ist, der den Menschen zusammenbrechen lässt. Auf den Geist kommt es an, der der Folter widersteht. Der Geist verwandelt den Menschen in einen anderen. Jussif erinnerte sich, dass ihre Gewissheit, sich zu widersetzen, von Tag zu Tag wuchs. Er besaß gar kein ihm abzupressendes Wissen, weil er keiner bestimmten Organisation angehörte, deren Mitglieder er hätte verraten können, wie es so mancher unter der Folter tat. Er war aber auch nicht bereit, ein falsches Geständnis abzulegen, wie es andere machten, um sich von der Folter zu befreien. Nein. Seit er zum ersten Mal
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