Jussifs Gesichter
Vielleicht hätte er es häufiger geschafft, wenn er kein Achtel Arrak getrunken hätte.
Als ihm bewusst wurde, dass ihm seine Verfolger auf den Fersen waren, begann er, mehr und mehr Zeit in der Bar zu verbringen, mehr und mehr zu trinken, bis er es von einer viertel auf eine halbe Flasche Arrak schaffte. Wenn er vor dem Trinken fliehen wollte, schlich er sich zum Haus seiner Familie; weder seine Mutter noch seine Tante sollten bemerken, dass er wieder und wieder mit seiner Schwägerin schlief. Allerdings hielt er dabei auf Abstand zum Geschehen und gab sich gleichgültig, wenn er spät in der Nacht auftauchte und sie schon wartend an der Tür stand. Jede Nacht führten sie das gleicheRitual auf, bis er sich im Morgengrauen davonstahl. Ein leises Theaterstück ohne Publikum, fast gänzlich ohne Worte. Sie wechselten vielleicht zwei Sätze, einen oder zwei Namen. Ein Theaterstück mit zwei einsamen Personen. Doch jede Nacht, einerlei ob er mit ihr schlief oder nicht, ob er im Ehebett lag oder in der Bar saß, überkam ihn tödliche Einsamkeit, eine Einsamkeit, die ihm die Knochen zerfraß. Wie seltsam das alles gewesen war.
»Die Einsamkeit ist zerstörend. Doch noch zerstörender ist die zwei Menschen gemeinsame Einsamkeit.« Warum hatte er Mariam die irgendwo gelesenen oder gehörten Worte damals nicht ins Gesicht gesagt? Würde sie diesen Satz nach all den Jahren verstehen, wenn sie ihn jetzt hörte?
Jussif kam zum letzten Tropfen Tee wie früher zum letzten Tropfen Arrak. Er legte den Betrag für den Tee auf den Tisch und stand abrupt auf, als mache er sich zu einer Verabredung auf den Weg. Er schaute erst zur Haustür, dann zum Fenster des oben gelegenen Zimmers. Dann nahm er seinen Koffer auf und ging auf das Haus zu.
Er stieß das Gartentor auf. Als er in den Garten trat, zögerte er, um sich auf die kommende Szene vorzubereiten. Er überlegte, wie es all diesen Menschen wohl ergehen mochte: seiner Mutter, Mariam, den vier Töchtern (oder auch der fünften Tochter, die während seiner Abwesenheit sicher zur Welt gekommen war), seinem Bruder, der sich versteckt hielt oder gefallen war, und schließlich ihm selbst, der nicht mehr Junis war.
Er verharrte im Garten des Hauses und horchte auf Geräusche. Dann pirschte er sich vor, bis er unter dem Fenster zu Mariams Zimmer stand, und stellte den Koffer auf den Boden. Außer dem Geräusch beim Aufsetzen war nichts zu vernehmen, aber er spürte sein Herz schneller schlagen. Er blickte sich um, dann wieder nach vorn. Dieselbe Gardine hing vordem Fenster, als sei sie geschlossen geblieben, seit er das Haus verlassen hatte. Er erinnerte sich, wie Mariam in jenen Nächten hinter der Gardine gestanden und auf seine Rückkehr gewartet hatte, um ihm die Tür zu öffnen. Wer weiß, vielleicht war sie zurückgekehrt, um wieder in dem Haus zu wohnen. Dann würde sie jetzt heraustreten und ihn wiedererkennen, obwohl viele Jahre ins Land gegangen waren. Sie würde ihm die Innentür öffnen, wie sie es schon vor zehn Jahren zu tun pflegte. Wie ein Mann nach Kriegsende, so kehre ich zu meinem Elternhaus zurück, sagte sich Jussif. Doch nach welchem Krieg, fragte er sich voller Ironie, um sich selbst zu ärgern. Es gab so viele! Und in welches Haus? Er hatte ja nicht einmal gewusst, wo sein Elternhaus eigentlich stand! Wenn Eheleute zu ihrem Haus zurückkehrten, holten sie den Hausschlüssel aus der Tasche. Und doch gab es Menschen auf der Flucht, die nur noch die eigene Haut retteten und weder Koffer noch Schlüssel noch irgendeinen anderen Gegenstand ihr Eigen nannten. Sie hatten ihr nacktes Leben gerettet; sie klopften an Türen, nicht unbedingt an die Tür ihres eigenen Hauses. Es herrschte Krieg, und sie mussten fliehen, an einem nahe gelegenen Ort unterschlüpfen. Vier Wände hätten ihnen gereicht, auch ohne Dach. Alle Häuser auf ihrem Weg betrachteten sie als ihr Eigentum. Mit trocknen Lippen, ausgedörrter Haut, leeren Mägen und rissigen Füßen schlichen sie Nacht für Nacht von Haus zu Haus. Sie klopften an Türen und noch mehr Türen, schwindlig, von Staub und schmerzenden Geschwüren überzogen, mit irren Augen und gebeugten Rücken. Die Gedemütigten spürten die Einsamkeit, selbst wenn sie in Gruppen unterwegs waren. »Ach, wie elend ist die Einsamkeit der Menge, wenn alle mit Stummheit geschlagen sind!« Alles war ansteckend, auch das Schweigen, die Stummheit. Kein Wort kam über ihre Lippen, keine Frage nach dem Weg. Ihre Augen sahen den Weg, sahen alles.
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