Jussifs Gesichter
(wie jetzt) oder (wie später) in Kadhimija, vor der Tür seines Elternhauses, das er seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, oder (wie in wenigen Minuten) im Café gegenüber – er hatte immer Angst vor dem Betreten dieses alten Hauses, wo die Erinnerung an seine ein paar Monate nach dem Verschwinden seines Bruders gestorbene Mutter wieder lebendig wurde. Er hatte auch Angst vor einer Begegnung mit seiner Tante, die sich dort verbarrikadierte und sich weigerte, zu ihrem Mann, dem Totengräber, zurückzukehren. »Er hat genug Tote begraben!«, sagte sie. Sie wolle nicht, dass ihr Mann sie mit seinen Händen beerdigte. Es hatte ihr gereicht, dass er den Feldjägern den einzigen Sohn übergab, der im Krieg fahnenflüchtig geworden war. Und er hatte Angst vor einer Begegnung mit der Frau seines Bruders, seiner Schwägerin, die wollte, dass er seinen Bruder ersetzte, der seit vielen Jahren untergetaucht war und sie mit ihren vier Töchtern allein gelassen hatte. Diese Töchter waren in Wahrheit gar nicht ihre Töchter, und für Jussif war der Bruder gestorben. Er wusste nicht, warum er ihr dies nicht sofort gesagt hatte. Es war einerlei, wo er sich aufhielt, hier oder woanders, früher oder später würde er sich wieder mit einigen dieser Erinnerungen auseinandersetzen müssen. Wenn er sich dies eingestand, würde er nicht aufgrund eines Teils, sondern aufgrund aller Erinnerungen handeln. Es war sein Aufbegehren, das diesen Faden in das Netz der alten, seltsamen, verlorenen, unbekannten Erinnerungen einwob, das kein Arzt vorhersagen konnte – vom Verlassen der Folterkammer des Militärabschirmdienstes im Verteidigungsministerium bis hin zur Einlieferung ins Krankenhaus, als folge er Onkel ’Assim.
Als Jussif aus dem Coster sprang und sich beim Fahrer bedankte, dachte er, eine ähnliche Stimme schon einmal gehörtzu haben, am 18. August 1988. Auch an jenem Tag hatte er wie geistesabwesend gezögert, ob er das Haus aufsuchen solle oder nicht. Der Unterschied bestand wohl darin, dass er jetzt, fünfzehn Jahre und acht Monate später, zusätzliche Erinnerungen mit sich schleppte. Hundertachtundachtzig Monate, fünftausendsiebenhunderteinundfünfzig Tage, hundertachtunddreißigtausendvierundzwanzig Stunden, acht Million zweihunderteinundachtzigtausendvierhundertvierzig Minuten, neunundvierzig Millionen sechshundertachtundachtzigtausendsechshundertvierzig Sekunden, in denen er sich die Zeitmenge nicht vorstellen konnte. In all diesen Sekunden, die verronnen oder nicht verronnen waren, in jenem Augenblick, an jenem Tag, um zwei Uhr fünfundzwanzig (er wusste nicht, zu welcher Sekunde, weil er sie nicht festhalten konnte) – welche Last an Erinnerungen trug er da mit sich herum? Und wenn er auf dem Weg zu seinem Elternhaus war, wie konnte es dann geschehen, dass er nicht wusste, wohin er den nächsten Schritt lenken musste? Was brachte ihn dazu, seinen Weg beizubehalten und sich zu entschließen, der Stadt den Rücken zuzukehren, sich einen weiteren Namen zuzulegen, wie er es früher zu tun pflegte und auch später wieder tat? Es war, als folge er einer Spur, die ihm vorgezeichnet worden war, als müsse er endlich mit dieser Mühsal abschließen, die sich zwischen ihm und seiner Seele, zwischen ihm und dem Stimmenbesitzer eingenistet hatte. Und auch zwischen ihm und seinem Bruder: Fand sich in diesem Land der Siegreichen und der Gedemütigten Platz für sie beide?
Jetzt, da er sich seinem Elternhaus näherte, suchte er die Gewissheit, dass er sich auch wirklich nicht irrte und das Haus mit keinem anderen verwechselte. Der eindeutige Beweis, dass er vor dem Haus seiner Eltern stand, war das geräumige, alte Café gegenüber, an der Ecke der Straßenkreuzung. Die verstaubten Gesichter der dort sitzenden Männer weckten jedochkeine Erinnerung in ihm. Es war, als redeten sie in einer neuen Sprache, die es ihm unmöglich machte herauszufinden, ob sie seine Geschichte kannten – oder doch? Wussten sie, dass er seine Kindheit und Jugend mit ihnen verbracht hatte, bis er sich eines Tages auf und davon machte? Kannten diese staubigen Gesichter die Zahl der Tage, der zäh verrinnenden Stunden, die er mit ihnen verleben musste? Warum vergisst der Mensch die glücklichen Stunden seines Lebens, während Unglück und Schmerz ihre Spuren in sein Gedächtnis einbrennen?
Jussif setzte sich auf eine leere Bank in einer stillen Ecke des Cafés und beobachtete Fassade und Tür des gegenüberliegenden Hauses. Er erinnerte sich an sein
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